Das Apollinische und das Dionysische – Von Nietzsche bis zu Le Bon (Mat4640)

Friedrich Nietzsche hat mit den Begriffen des Apollinischen und des Dionysischen darauf aufmerksam gemacht, dass unter und vor der Welt unseres Verstandes und rationaler Überlegungen noch eine andere liegt, die des Rausches. Der präsentiert sich vor allem auch dann, wenn Menschen zu einer Masse werden. Es lohnt sich, sich über die beiden Eckpunkte Gedanken zu machen, um sich zu positionieren.

Nietzsche, Das Apollinische und das Dionysische
Die dunkle und die helle Seite der menschlichen Existenz:

Das Zeitalter der Vernunft
Es gab mal eine Zeit, das begann schon mit der Aufklärung und erreichte den Höhepunkt im 19. Jahrhundert, da glaubte man, mit Hilfe der Vernunft alles verstehen und regeln zu können. Aber es gab auch schon Leute, die da weniger einseitig urteilten.

Nietzsche als Kritiker der Überbetonung der Vernunft
Einer davon war der Philosoph Friedrich Nietzsche, der seine Lehrer an der Universität mit einer neuen Einschätzung der Entstehung der Tragödie im alten Griechenland erschreckte.

Natürlich wussten alle Gebildeten, dass diese Theaterform mit ziemlich wilden Kulten und orgiastischen Festen zusammenhingen, das fasste man aber eher mit spitzen Fingern an und lehnte es moralisch ab.

Das dunkle „Dionysische“ und das helle „Apollinische“
Nietzsche nun sah in dem „Dionysischen“, wie er die wilde und sehr stark von Musik bestimmte Seite der griechischen Kultur nach einem dazu passenden Gott nannte, bei der man ganz gewollt das verlor, was man gewöhnlich Vernunft und Selbstbeherrschung nennt, einen sehr gleichberechtigten Teil. Das Gegenstück dazu war das „Apollinische“ – nach einem anderen Gott der griechischen Mythologie.

Die Tragödie als Übergangsfeld von Gruppen-Ekstase zum Alltagsleben
Nietzsche war der Meinung, dass man die Tragödie mit ihrer Gegenüberstellung von individuellen Akteuren auf der Bühne und dem ein Gemeinschaftsgefühl auch musikalisch darstellenden Chor brauchte, um die Menschen aus der dionysischen Selbstentgrenzung wieder in den Rahmen praktischer Lebensführung zurückzuholen.

Kritik an Sokrates
Was Nietzsche aber störte, war das, was er dem Philosophen Sokrates vorwarf, nämlich die Durchsetzung einer Vorstellung von der Höherschätzung des klaren Bewusstseins. Sein Biograph Rüdiger Safranski bringt es so auf den Punkt:

Auszug aus einer Nietzsche-Biographie
„Sokrates bricht die Macht der Musik und setzt an ihre Stelle die Dialektik. Sokrates ist ein Verhängnis, mit ihm beginnt der Rationalismus, der nichts mehr wissen will von der Tiefe des Seins […] Was die Tragödie betrifft, so ist das Pathos des Schicksals verdrängt worden durch Konflikte, Intrigen und Berechnungen. […]

Nietzsche behandelt Sokrates als Symptom eines tiefgreifen den und bis heute folgenreichen kulturellen Wandels. Der Wille zum Wissen überwältigt die Lebensmächte von Mythos, Religion und Kunst. Das menschliche Leben reißt sich los aus dem dunklen Wurzelgrund seiner Instinkte und Leidenschaften. Es ist, als müßte sich das Sein vor dem Bewußtsein rechtfertigen. Das Leben will ans Licht, die Dialektik besiegt die dunkle Mu- sik des Schicksals. Es erwacht die optimistische Hoffnung, daß sich das Leben vom Bewußtsein her korrigieren, lenken, berechnen läßt.“

aus:
Rüdiger Safranski, Nietzsche. Biographie seines Denkens, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt / Carl Hanser Verlag, München 2000, S. 55/56

Die Begriffe und ihre Bedeutung heute
Mit diesem Ansatz von Nietzsche, den Safranski im 4. Kapitel seiner Biographie sehr klar beschreibt, hätten wir ein wichtiges Werkzeug in der Hand, mit dem sich die vielfältigen Konfliktfelder zwischen Verstand und vor allem Gruppengefühl besser verstehen und einordnen kann. Wer jemals in einem Konzert mit großem Publikum war und sich anschließend gefragt hat, ob er dort überhaupt noch der gleiche Mensch wie vorher oder hinterher war, der weiß, warum Nietzsche der Musik die zentrale Rolle zusprach, wenn es um das Dionysische geht.

Blick in ein Nachbarfeld: Le Bons Theorie von der Massenseele
Wir wollen an dieser Stelle auch gleich auf Nebenfelder aufmerksam machen, in denen auch Gefühlswelten uns stärker bestimmen als Logik und reine Wahrnehmung von kühl kalkulierten Interessen.

Hier wäre zum einen an Phänomene der Gruppendynamik zu denken. Sehr wichtig ist auch die Theorie von Gustave Le Bon, der schon 1895 eine „Psychologie der Massen“ beleuchtete. In ihr ging er ganz klar davon aus, dass sich in bestimmten Situationen viele Einzelseelen zu einer neuen Massenseele zusammenschließen, die einen ganz eigenen Charakter entwickelt.

Besonders gefährlich wird das, wenn sich eine Gruppe von Menschen zu einer regelrechten Lynchjagd auf jemanden zusammenschließt oder eine Gruppe von Fußballfanatikern richtig außer Rand und Band gerät. Hinterher ist der Einzelne dann zum Teil völlig ratlos und kann nicht erklären, was ihn getrieben hat, sich so oder so zu verhalten.

Le Bon sieht dann nur die Chance, dass einer, der noch einigermaßen bei Verstand ist, durch geschicktes Verhalten die Masse kurz aus dem Tritt bringt, so dass die gefährliche Massenseele kurzzeitig die Kontrolle verliert. Es gibt Fälle, dass die aufgeputschte Menge dann ziemlich „belämmert“ (also wieder zu harmlosen jungen Schafen geworden) nach Hause ging.