Ein Gedicht als Antwort auf ein anderes: Schickele, „Großstadtvolk“ (Mat4725)

Worum es hier geht:

René Schickele hat mit seinem Gedicht „Großstadtvolk“ einen interessanten Fall geliefert, bei dem er mit seinem Gedicht auf das eines anderen, in diesem Fall Richard Dehmels, antwortet. Es geht um die des Umgangs mit der Industriewelt.

Zunächst die beiden Gedichte

Schickele, René

Großstadtvolk

 

01: Ja, die Großstadt macht klein . . .

02: O, lasst euch rühren, Ihr Tausende . . .

03: Geht doch hinaus und seht die Bäume wachsen:

04: Sie wurzeln fest und lassen sich züchten.

05: Und jeder bäumt sich anders zum Licht.

06: Ihr freilich, ihr habt Füße und Fäuste,

07: Euch braucht kein Forstmann erst Raum zu schaffen,

08: Ihr steht und schafft Euch Zuchthausmauern –

09: So geht doch, schafft Euch Land! Land! Rührt euch!

10: Vorwärts! Rückt aus! .

11:                                                         Richard Dehmel

12:                                         Predikt ans Großstadtvolk

 

13: Nein, hier sollt Ihr bleiben!

14: in diesen gedrückten Maien, in glanzlosen Oktobern.

15: Hier sollt Ihr bleiben, weil es die Stadt ist,

16: wo die begehrenswerten Feste gefeiert werden

17: der Macht und die blass machenden Edikte erlassen werden

18; der Macht, die wie Maschinen — ob wir wollen oder nicht — uns treiben.

19; Weil von hier die bewaffneten Züge hinausgeworfen werden

20: auf mordglänzenden Schienen,

21: die alle Tage wieder

22: das Land erobern.

23: Weil hier die Quelle des Willens ist,

24: aufschäumend in Wogen, die Millionen Nacken drücken,

25: Quelle, die im Takte der Millionen Rücken,

26: im Hin und Her der Millionen Glieder

27: bis an die fernsten Küsten brandet —

28: Hier sollt Ihr bleiben!

29: in diesen bedrückten Maien, in glanzlosen Oktobern.

30: Niemand soll Euch vertreiben!

31: Ihr werdet mit der Stadt die Erde Euch erobern.

Dann die grafische Bearbeitung des  Gedichtes von Schickele

Vergleich der beiden Gedichte

  1. Schon die Überschrift setzt einen interessanten Akzent, nämlich die Verbindung von Großstadt und Volk – was im weiteren Verlauf sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede bzw. Differenzen mit sich bringt.
  2. Die ersten 10 Verszeilen präsentieren die Auffassung von Richard Dehmel, der die Großstadtmenschen auffordert, sich nicht mehr „klein“ machen zu lassen. Sie hätten nicht nur das Potenzial der Bäume, die sich ihren Weg in den Himmel „bäumen“, sondern auch die Fähigkeit, zu gehen und sich „Land“ zu schaffen. Das Wort „ausrücken“ kommt aus dem militärischen Bereich und zeigt, dass es um Kampf geht, (09/10)
  3. Schickele setzt einen Gegenakzent, nämlich den des Bleibens. Aber es geht nicht darum, etwa alles weiter hinzunehmen. Vielmehnr sollen die „begehrenswerten Feste“, die jetzt nur die Unterdrücker feiern, übernommen werden. Es geht nicht darum, wegzugehen, was einer Flucht gleichkommt, sondern erst die Stadt und damit auch die ganze Erde zu erobern.
  4. Ziel ist es, die „blassmachenden Edikte“ (17) loszuwerden, sich nicht mehr „treiben“ (18) zu lassen, selbst die „bewaffneten Züge“ (19)  zu besetzen, anscheinend auch die „mordglänzenden Schienen“ (20) (wobei offen bleibt, ob auch der Mord mit übernommen wird) zu übernehmen und Land zu „erobern“ (22 und 31).
  5. Ein wichtiges Mittel ist der inhaltliche Hinweis auf die eigene Stärke, die „Millionen“, eine Zahl, die mehrfach wiederholt wird (24, 25, 26).
  6. Es geht also beim Vergleich von Dehmel und Schickele nicht um Unterschiede in der Zielsetzung, sondern mehr um die Frage der Vorgehensweise – und da ist Schickele deutlich aggressiver und radikaler.

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