Hat Faust eine Midlife-Crisis – Erörterung des Anfangsmonologs und der Verhandlungen mit Mephisto (Mat379)

Worum es hier geht:

  • Es geht um die sachliche Basis für eine Klärung der Frage, ob Goethes Faust am Anfang der Tragödie eine Midlife-Crisis hat.
  • Dafür muss man erst mal klären, was das ist und wodurch es gekennzeichnet ist.
  • Insgesamt wollen wir hier zeigen, wie man eine solche Frage erörtern kann.

Auswertung eines Wikipedia-Artikels zum Thema

  1. „Die Midlife-Crisis (englisch für „Lebensmittekrise“) ist eine psychische Krise, die als Zustand der Unsicherheit im Lebensabschnitt von etwa 30 oder 40 bis 55 Jahren auftritt.“
    • Dies kann man grundsätzlich im Hinblick auf Faust bejahen.
    • Allerdings hat man den Eindruck, dass Faust eher von einem späteren Zeitpunkt seines Lebens auf das zurückblickt, was er erreicht hat. Das vergleicht er dann mit seinen Zielen.
  2. Schauen wir uns mal die Kennzeichen an, die in Wikipedia aufgeführt werden:
    „Als Anzeichen der Midlife-Crisis werden sehr unterschiedliche Beschwerden benannt. Meist berichten die Betroffenen von Stimmungsschwankungen, Grübeleien, innerer Unsicherheit, Unzufriedenheit mit dem bisher Erreichten (beruflich, partnerschaftlich, familiär).“

Auswertung von Fausts Klage

Schauen wir uns die entscheidenden Punkte in Fausts berühmtem Monolog mal genauer an:
Zitat nach: http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Dramen/Faust.+Eine+Trag%C3%B6die/Faust.+Der+Trag%C3%B6die+erster+Teil/Nacht

    • Habe nun, ach! Philosophie,
    • Juristerei und Medizin,
    • Und leider auch Theologie
    • Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
    • Da steh‘ ich nun, ich armer Tor,
    • Und bin so klug als wie zuvor!
      • Hier zunächst das eher wissenschaftliche Negativ-Ergebnis.
    • Heiße Magister, heiße Doktor gar,
    • Und ziehe schon an die zehen Jahr‘
    • Herauf, herab und quer und krumm
    • Meine Schüler an der Nase herum –
    • Und sehe, dass wir nichts wissen können!
    • Das will mir schier das Herz verbrennen.
      • Es folgt die Konsequenz, die das für Fausts Lehrtätigkeit hat.
      • Erstaunlich das sicher übertriebene Fazit, das er am Ende zieht.
      • Hier merkt man deutlich, dass es nicht nur ein rationales Ergebnis ist, sondern dass hier auch Gefühle reinspielen, die in die Nähe einer allgemeinen Bedrücktheit gehen.
    • Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen,
    • Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
    • Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,
    • Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel –
    • Dafür ist mir auch alle Freud‘ entrissen,
    • Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen,
    • Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
    • Die Menschen zu bessern und zu bekehren.
      • Eine gewisse Arroganz ist hier auch deutlich zu spüren.
      • Dazu kommt die Bereitschaft, einiges zu riskieren, was dann das Einfallstor für Mephisto öffnet.
      • Am Ende dann wieder ein Rückfall in totale Selbstkritik, was scheinbar im Widerspruch steht zur Anfangs-Arroganz. Aber ein Unterschied liegt natürlich in Intelligenz und dem, was man damit erreichen konnte.

    • Auch hab‘ ich weder Gut noch Geld,
    • Noch Ehr‘ und Herrlichkeit der Welt;
    • Es möchte kein Hund so länger leben!
      • Hier wird es jetzt interessant, denn das Bild von Faust erweitert sich.
      • Es geht ihm gar nicht nur um Erkenntnis, sondern auch um „Gut und Geld“ und auch „Ehr‘ und Herrlichkeit“. Konkret heißt das, dass dieser Mann materielle Interessen hat. Das ist natürlich legitim. Aber es schmälert doch das Bild von dem nur an Erkenntnissen interessierten Wissenschaftler.
      • Beim Ehrgeiz ist es sicher etwas anderes. Das kann man als Zusatzmotiv bei Wissenschaftlern sicher akzeptieren. Die Frage ist aber, ob man mit für die herrschenden Kreise unangenehmen Erkenntnissen überhaupt noch Ehre und Ansehen bekommen kann. Man denke etwa an Lessing, der deutliche Rücksichten nehmen musste auf die herrschende Religionsauffassung.

    • Drum hab‘ ich mich der Magie ergeben,
    • Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
    • Nicht manch Geheimnis würde kund;
    • Dass ich nicht mehr mit sauerm Schweiß
    • Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
    • Dass ich erkenne, was die Welt
    • Im Innersten zusammenhält,
    • Schau‘ alle Wirkenskraft und Samen,
    • Und tu‘ nicht mehr in Worten kramen.
      • Aus heutiger Sicht wird es jetzt ziemlich obskur.
      • Denn Faust will sich der Magie ergeben.
      • Er zeigt hier ein ganz anderes Weltbild, als es für die Neuzeit bestimmend geworden ist.
      • Es wird sich dann aber auch bald zeigen, dass hier auch nur Enttäuschungen kommen. Das macht ihn noch anfälliger für Mephisto und seine recht problematischen Angebote.

Auswertung von Fausts Grundhaltung

Auswertung der Textstellen

    • Stimmungsschwankungen sind wohl nicht das Kernproblem von Faust,
    • „Innere Unsicherheit“ auch nicht.
    • Ansatzweise sicher „Grübeleien“.
    • Vor allem aber „Unzufriedenheit mit dem bisher Erreichten“.
      • Das ist sicher vor allem beruflich bedingt, allerdings geht es weit darüber hinaus, nämlich ins Existenzielle hinein. Immerhin will Faust deutlich mehr wissen, als was er Schülern beibringen soll.
      • Interessant ist, dass bei Faust am Anfang von den Aspekten „partnerschaftlich“ oder „familiär überhaupt keine Rede ist. Hier merkt man deutlich, wie solch ein Abgleich gerade auch Dinge deutlich macht, die Goethe bei der Figurenkonstruktion außen vor gelassen hat.

Ergänzung: Frage nach den Perspektiven der Krise

Hochinteressant ist auch ein Hinweis, der auf die Perspektiven dieser Lebenskrise eingeht:
Sofern sich aus den Belastungen keine psychische Erkrankung entwickelt, gehen die meisten Menschen aus diesem Lebensabschnitt mit dem Gefühl gestärkter innerer Reife und bewussterer Lebenshaltung heraus.“

    • Hier kann man schon mal feststellen, dass Faust durchaus ein gewisses Maß an Reife schon in den Verhandlungen mit Mephisto zeigt. Er ist hier vorsichtig und traut dem Teufel nicht viel zu.
    • Im weiteren Verlauf von Faust I lernt Faust neue Lebensbereiche kennen – vor allem im Bereich der Beziehungsgefühle. Dadurch wird er auf jeden Fall reifer.
    • Letztlich muss man allerdings Faust II heranziehen, worauf wir hier allerdings verzichten.

Fazit

Fazit: Man kann bei Faust sicher zu Beginn des ersten Teils eine Krise erkennen. Sie bezieht sich aber nur auf einen kleinen, aber sehr wichtigen Teil seiner Lebensziele. Interessant dabei ist, dass es ihm gar nicht nur um Erkenntnis geht, sondern auch um eine Art romantischer Entgrenzung. Die wird vor allem deutlich, wenn er ein hohes Maß an Risikobereitschaft zeigt.

Auswertung von Fausts Äußerungen zu seiner Grundeinstellung

Zu finden ist das Zitat hier:
http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Dramen/Faust.+Eine+Trag%C3%B6die/Faust.+Der+Trag%C3%B6die+erster+Teil/Studierzimmer+%5B1%5D

    • Du hörest ja, von Freud‘ ist nicht die Rede.
    • Dem Taumel weih‘ ich mich, dem schmerzlichsten Genuss,
      • Hier schon mal eine deutliche Absage an das, was Mephisto – wenn auch nur in seinem Sinne – anzubieten hat.
      • Er bekommt dann zwar „Taumel“ und schmerzlichen „Genuss“ – aber das ist eher ein Ergebnis, das Mephisto so nicht beabsichtigt hat. Er denkt sehr viel eindeutiger und einseitiger.
    • Verliebtem Hass, erquickendem Verdruss.
    • Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,
      • Interessant hier, dass Faust eigentlich seinen scheinbaren Anfangswunsch aufgegeben hat.
      • Natürlich kann man auch sagen, dass es ihm um mehr als nur Wissen geht.
    • Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen,
    • Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
    • Will ich in meinem innern Selbst genießen,
    • Mit meinem Geist das Höchst‘ und Tiefste greifen,
    • Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen,
    • Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern,
    • Und, wie sie selbst, am End‘ auch ich zerscheitern.
      • Hier findet sich bei Faust Romantik pur – wenn es nämlich um Entgrenzung geht, die Bereitschaft, für das Ersehnte alles in Kauf zu nehmen, sogar den eigenen Untergang.
      • Interessant auch, wie Goethe hier Faust zu einem wichtigen Teil der gesamten Menschheit macht.
      • Die Frage bleibt natürlich, inwieweit Faust eigentlich weiß, was „Menschheit“ ist und wen er dort alles einschließt und auch ausschließt.

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