Frisch, „Andorra“ Bildnisproblematik (Mat4895)

  1. Jeder von uns weiß, was Selbstbewusstsein ist.
    • Zunächst einmal heißt es nur:
    • Was denke ich von mir selbst?
    • Als was betrachte ich mich?
  2. Dann wird es aber häufig auch in einem positiven Sinne gebraucht.
    1. Selbstbewusst ist jemand, der keine Angst vor dem Auftritt hat. wenn er einen Raum betritt, dann richten sich sofort viele Augen auf ihn.
    2. Wenn es bei einem Vortrag Störungen gibt, weiß er damit umzugehen.
  3. Nun wissen Psychologen aber auch, dass Selbstbewusstsein vor allem auch ein Fremdbewusstsein ist.
    1. Gemeint ist damit, was andere über mich denken und mir mitteilen
    2. Auch das beeinflusst die Vorstellung von mir selbst.
    3. Ja, das kann sogar maßgeblich sein: Wenn man immer wieder hört: „Du kannst das eben nicht“ – dann gibt man irgendwann nach und versucht es auch gar nicht mehr.
  4. Tatsächlich hat es ein Theaterstück geschafft, in diesem Zusammenhang einen Fachbegriff zu prägen.
    1. Es gibt den sogenannten Andorra-Effekt.
    2. Der hängt wie Max Frischs Theaterstück nicht mit dem Staat in den Pyrenäen zusammen.
    3. Sondern es geht um festgefügte Vorstellungen , Vorurteile.
  5. Die Menschen dieses fiktiven Landes „Andorra“
    1. zeigen wenig Mitmenschlichkeit.
    2. Stattdessen projizieren sie ihre Vorurteile auf Andri, einen jungen Mann, den sie für einen Juden halten.
    3. Das bringt ihn am Ende in Lebensgefahr. Viel schlimmer, er wird tatsächlich seines Lebens beraubt.
  6. Das Besondere an diesem Fall ist nun,
    1. dass dieser Andri gar kein Jude ist.
    2. Er ist das uneheliche Kind eines Lehrers mit einer Frau auf dem feindlichen Nachbarland.
    3. Der Lehrer verschafft sich also mit der falschen Zuschreibung zwei Vorteile:
      1. Zum einen hat er jetzt scheinbar kein uneheliches Kind, zudem auch noch mit einer Frau aus dem feindlichen Nachbarland.
      2. Zum anderen kann er sich als Retter eines Judenkindes präsentieren.
  7. Das Besondere an der Entwicklung Andris ist nun,
    1. dass er unter all den negativen Zuschreibungen nicht nur leidet, sondern sie im Laufe der Zeit für sich annimmt.
    2. Als dann sein Vater endlich bereit ist, die Wahrheit zu sagen, ist es zu spät. Der Junge sagt klipp und klar:
      „Ihr habt mich zum Juden gemacht, jetzt bin ich einer“.
  8. Was hat das Theaterstück nun mit uns zu tun?
    1. Normalerweise konzentriert man sich auf das Schicksal der Juden und sieht es als Warnung vor Antisemitismus.
    2. Aber das ist nicht die eigentliche Aussage. Die kommt vom Pater, der sich selbst beschuldigt, sich von Andri ein Bildnis gemacht zu haben.
    3. Indem er Andri eingeredet hat, er solle sich als Jude annehmen, hat er ihn dazu gemacht.
    4. Später kann und will Andri diese Identität nicht mehr aufgeben, sondern wendet sie sogar als Vorwurf an die Verursacher.
  9. Die meisten von uns werden glücklicherweise nicht mit Antisemitismus konfrontiert werden. Hier haben Staat und Gesellschaft aus der Geschichte gelernt.
  10. Aber es kommt immer wieder vor, dass einem Menschen eine Identität vorgehalten wird, die ihm gar nicht entsprechen muss.
    1. Man kennt aus Filmen die Situation, dass ein Vater gerne möchte, dass der Sohn in die gleiche Richtung geht wie er. Dann wird aus ihm ein Sportler, obwohl er lieber Musik studiert hätte.
    2. Oder man redet jemandem nach ein paar Fehlversuchen ein, er könnte zum Beispiel Mathe nicht. In Wirklichkeit ist er aber nur den damit verbundenen Stress-Situationen bei schriftlichen Arbeiten nicht gewachsen. Zu Hause und in Ruhe beschäftigt er sich auf seine Art sehr intensiv mit Fragen der Mathematik.  Irgendwann hört er damit vielleicht auf, weil er die Meinung übernimmt, er könne es eigentlich nicht.
  11. Letztlich landet man damit bei der Problematik der Vorurteile:
    1. Sie sind etwas ganz Normales, nämlich erste, schnelle Urteile, die man im Leben braucht, um sich erst mal zurechtzufinden. Beispiel: Man trifft in der Nachbarschaft erstmals einen Mann mit einem gefährlich aussehenden großen Hund herumlaufen. Dem geht man dann lieber erst mal aus dem Weg.
    2. Wichtig ist nur, solche Vor-Urteile nicht zu Fest-Urteilen werden zu lassen. Man muss sie ständig überprüfen, um dem anderen Menschen wirklich gerecht zu werden. 
  12. Im Falle des Stücks „Andorra“ passiert das Gegenteil:
    1. Dem angeblichen Juden André wird Geldgier vorgeworfen. Aber der Tischler zum Beispiel verhält sich genauso. Man kann auch sagen, er entlastet sich, indem er etwas Negatives einem anderen zuschreibt.
    2. Ähnlich ist es beim Lehrer. Der  beklagt, dass Juden angeblich überall schon Lehrstühle an Universitäten besetzen. Dabei will er selbst nur auch auf einen Lehrstuhl, hat also den selben Antrieb.
    3. Juden sind angeblich feig, aber als die Schwarzen Andorra überfallen, wehrt sich dort keiner, nicht mal der Soldat, der für die Freiheit Heldenhaft sterben wollte.

Halten wir fest:

  1. Max Frischs Stück zeigt, wie gefährlich es ist, wenn man gegenüber einem Mitmenschen Vorurteile nicht nur hat, sondern sie auch beibehält.
  2. Die Gefahr besteht dann zum einen darin, dass mit diesen Vorurteilen Nachteile verbunden sind. Zum Beispiel traut man jemandem etwas Positives nicht zu, obwohl er es eigentlich besser kann als andere.
  3. Zum anderen kann es sein, dass das Opfer von „Festurteilen“ diese im Laufe der Zeit auch für sich selbst übernimmt. Damit wird man mitschuldig, wenn jemand sein Potenzial nicht wirklich ausspielen kann.

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