Georg Heym, „Columbus“ – kein typisches Gedicht des Expressionismus (Mat1727-nex)

Worum es hier geht:

Auf der Seite
http://textaussage.de/georg-heym-columbus
haben wir das Gedicht „ganz normal“ vorgestellt.

Dabei fällt natürlich auf, dass dieses Gedicht nicht so ganz dem entspricht, was man von einem Gedicht des Expressionismus erwartet.

Dazu hier einige Anmerkungen

Inwieweit Heyms „Columbus“ nicht ganz typisch ist für seine anderen Gedichte aus der Zeit des Expressionismus:

Georg Heym (1887-1912) gilt als wichtiger Vertreter des frühen Expressionismus und ist bekannt für seine düstere, oft verstörende und apokalyptische Lyrik. Seine typischen expressionistischen Gedichte zeichnen sich oft durch folgende Merkmale aus:

  • Groteske und erschreckende Bilder: Häufig verwendet Heym Bilder von Verfall, Krankheit, Tod und Gewalt. Er scheut sich nicht vor dem Hässlichen und Abscheulichen.
  • Urbaner Kontext und Entfremdung: Viele seiner Gedichte spielen in Großstädten und thematisieren die Anonymität, Hässlichkeit und existenzielle Verlorenheit des modernen Menschen in der urbanen Umgebung.
  • Katastrophenstimmung und Apokalypse: Eine vorherrschende Atmosphäre ist die des bevorstehenden Untergangs, oft in Form von Weltuntergangsvisionen oder Naturkatastrophen, die eine bedrohliche Macht entfalten.
  • Deformierung der Realität: Die Wirklichkeit wird nicht realistisch dargestellt, sondern subjektiv verzerrt und fragmentiert, um innere Zustände oder eine kritische Weltsicht auszudrücken.
  • Isolation und Verzweiflung: Die Figuren in seinen Gedichten sind oft isoliert, leiden unter Angst und Verzweiflung, ohne Hoffnung auf Erlösung.

Heyms Gedicht „Columbus“ weicht in mehreren Punkten von diesen typischen Merkmalen ab:

  • Fehlen von urbaner Entfremdung und Hässlichkeit: Statt der bedrohlichen Großstadtkulisse oder Bildern des Verfalls präsentiert „Columbus“ eine naturverbundene, ätherische Landschaft der See und der exotischen Küste. Es gibt keine Spur von urbaner Angst oder sozialer Kritik.
  • Positive und wunderschöne Ästhetik: Die Bilder von „wunderbarem Fittich blau beschwingt“, „weiße Riesenschwäne mit dem blassem Gefieder sanft, das süß wie Harfen klingt“, „grünem Wasser Blumen, dünn wie Gläser“ und „weißen Orchideen“, sowie die „goldnen Tempeldächer Mexikos“ sind von außergewöhnlicher Schönheit und Sinnlichkeit. Dies steht im Kontrast zu den oft grotesken oder schockierenden Bildern, die Heym sonst verwendet.
  • Traumhafte Ruhe statt existenzieller Angst: Anstelle der typischen expressionistischen Verzweiflung, Hysterie oder dem Gefühl des Weltuntergangs strahlt „Columbus“ eine tiefe Ruhe und friedliche Erwartung aus. Columbus selbst „träumt“, und das Ende mit „Salvador“ (was „Heiland“ bedeutet) das „in Frieden“ schlummert, vermittelt eine seltene, fast idyllische Ankunft. Die Atmosphäre ist von Wunder und Staunen geprägt, nicht von Angst oder Schrecken.
  • Fokus auf das Exotische und die Entdeckung als Erfüllung: Während der Expressionismus oft die Krise der Moderne thematisierte, feiert Heyms „Columbus“ die Entdeckung eines neuen, unberührten Paradieses. Es ist ein Gedicht der Erwartung und des Erreichens, nicht des Verlusts oder des Untergangs.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Columbus“ von Georg Heym durch seine positive Ästhetik, die traumhafte, friedliche Atmosphäre und die Abwesenheit von urbaner Entfremdung oder apokalyptischer Katastrophenstimmung eine bemerkenswerte Ausnahme im Gesamtwerk des Dichters und in der expressionistischen Lyrik darstellt. Es zeigt eine andere, weniger düstere Facette seines Schaffens, die dem Thema der Entdeckung und des Wunders gewidmet ist.

Symbolismus als andere Zuordnungsmöglichkeit?

Obwohl Georg Heym primär dem frühen Expressionismus zugeordnet wird, könnte sein Gedicht „Columbus“ aufgrund einiger seiner Merkmale auch der Epoche des Symbolismus zugerechnet werden.

Der Symbolismus entwickelte sich zwischen 1880 und 1920, hauptsächlich in Frankreich, als bewusste Abkehr vom Realismus und Naturalismus. Er zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:

  • Verwendung von Symbolen als Bedeutungsträger.
  • Betonung des Spirituellen und Geheimnisvollen.
  • Subjektivität statt Objektivität.
  • Ästhetisierung des Alltäglichen und das Prinzip des „L’art pour l’art“ (Kunst um der Kunst willen).
  • Motive umfassen subjektive Eindrücke, Träume, Visionen und Stimmungen.
  • Typische rhetorische Mittel sind Wortneuschöpfungen und Synästhesien – die Verschmelzung verschiedener Sinneswahrnehmungen.

Heyms „Columbus“ zeigt mehrere dieser symbolistischen Züge:

  • Die traumhafte, fast mystische Atmosphäre des Gedichts, in der Columbus selbst „träumt“, passt gut zu den symbolistischen Motiven von Träumen, Visionen und subjektiven Stimmungen.
  • Die wunderschönen und detaillierten Naturbilder, wie „große Vögel auf den Wassern mit wunderbarem Fittich blau beschwingt“, „weiße Riesenschwäne mit dem blassem Gefieder sanft, das süß wie Harfen klingt“ und „im grünen Wasser Blumen, dünn wie Gläser, und tief im Grund die weißen Orchideen“, sind Beispiele für eine starke Ästhetisierung und Sinnlichkeit. Dies steht im Gegensatz zur oft düsteren oder grotesken Ästhetik des Expressionismus und entspricht der Suche nach dem Schönen, die auch im Verfallenden gesucht wird, wie es für den Symbolismus typisch ist.
  • Die sinnliche Wahrnehmung der Annäherung an das Unbekannte durch Gerüche („schwer von brennendem Jasmin“) und Klänge („süß wie Harfen klingt“) kann als Synästhesie interpretiert werden, einem bevorzugten Stilmittel des Symbolismus.
  • Die Darstellung der neuen Welt durch „stumme Sterne“ und das „kleine Feuer, zart gleich einem Sterne“ über „Salvador“ verleiht der Entdeckung eine transzendente und geheimnisvolle Dimension, die an die Betonung des Spirituellen und Geheimnisvollen im Symbolismus erinnert.

Während der Expressionismus, zu dem Heym gehört, das „Innenleben intensiv nach außen kehrt“ und „Gesellschaftskritik übt“, und oft das Hässliche und Verstörende bewusst betont, konzentriert sich „Columbus“ auf eine sanfte, staunende und friedliche Entdeckung [Konversationsverlauf]. Diese Ausrichtung auf das Ästhetische, das Traumhafte und die symbolische Aufladung der Natur macht das Gedicht untypisch für viele andere expressionistische Werke Heyms und lässt es stattdessen stark in die Merkmale des Symbolismus hineinreichen. Die beiden Epochen, Symbolismus und Expressionismus, werden zudem als wichtige Etappen der literarischen Moderne verstanden und entwickelten sich zeitlich überlappend.

Vergleichsmöglichkeit

Nietzsche, Der neue Columbus,
https://schnell-durchblicken.de/friedrich-nietzsche-der-neue-columbus-im-vergleich-zu-georg-heym-columbus

Weiterführende Hinweise