Goethes „Mignon“ – Romantik und Opfer der Klassik (Mat8050)

Goethe und seine „Mignon“-Figur
  • Es handelt sich um eine Figur aus dem ersten Teil von Goethes „Wilhelm Meister“, der die Lehrjahre des Bildungsromans enthält.
  • Sie ist das Kind eines Harfenspielers und seiner Schwester, was sich als Problem aber erst nach Heirat und Geburt der Tochter herausstellt.
  • Das führt dann zur Trennung des Paares, die Mutter wird verrückt und stirbt, der Vater wandert einsam durch die Welt.
  • Mignon wird von einer Zirkustruppe geraubt und dort schlecht behandelt.
  • Sie wird dann von Wilhelm, dem Helden des Bildungsromans gekauft – sie ist dann auf eine rätselhafte Weise seine Dienerin, die aber von Seiten des Kindes auch Leidenschaft einschließt.
  • Als sie dann feststellen muss, dass Wilhelm seine Liebe einer anderen Frau schenkt, stirbt sie schließlich aus Gram und Sehnsucht.
  • Für Goethe steht sie für die Sehnsucht nach Italien, was vor allem das „Zitronenlied“ zeigt (siehe weiter unten).

Mignon

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.

  • Hier ist Italien gemeint, für Goethe wie für viele andere Deutsche ein Sehnsuchtslanbd.
  • Deutlich wird die Liebessehnsucht.

Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.

  • Hier kommt zu den romantischen Naturmotiven noch ein weiteres hinzu, das auch in der Romantik eine große Rolle spielt, nämlich der Marmor als besonderer Baustein.
  • Angedeutet wird die Seelennot eines gequälten Kindes.

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut,
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg! o Vater, lass uns ziehn!

  • Hier werden die romantischen Motive noch deutlicher, denn es geht um Berge, einsame Wege, Undeutlichkeit der Wahrnehmung im Nebel und schließlich sogar „der Drachen alte Brut“, also um Fabelwesen und alte Geschichten.
  • Auch der stürzende Fels und die damit verbundene Gefahr der Natur passt zu einer Seite der Romantik.
Insgesamt wird deutlich, dass Mignon zu beiden Welten gehört, sowohl zur Klassik – als Bestandteil eines Bildungsweges – aber auch zur Romantik. Goethe hat sich zwar von dieser Bewegung immer nach außen hin distanziert, aber immer wieder auch entsprechende Themen und Motive in sein Werk aufgenommen.
Interessant ist die Entwicklung der Figur in Goethes Werk.
Rüdiger Safranski macht in seiner großen Goethe-Biografie „Kunstwerk des Lebens“ deutlich, wie sich der Meister von seiner Jugendfigur entfernte:
„In diesen Tagen [auf der Italienreise vor dem Aufbruch nach Rom] erinnern ihn Freunde an den bisher unvollendeten Wilhelm Meister und drängen ihn zur Fortsetzung. Nach einigem Besinnen wird ihm klar: unter diesem Himmel möchte sie wohl nicht möglich sein. Warum? Ist Wilhelm etwa ein Meister aus dem Norden? Schlendert er andererseits nicht fast wie ein Lazarone durch sein Leben, geht bei Mädchen und Schauspielertruppen vor Anker, wie es ihm gefällt, ohne rechte bürgerliche Zielstrebigkeit? Ist Mignons Lied Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn nicht ein Hymnus auf den Süden? Das würde dafür sprechen, daß der Wilhelm der Theatralischen Sendung eigentlich ganz gut unter diesen Himmel paßt. Doch was Goethe zu diesem Zeitpunkt mit seiner Romanfigur vorhat, paßt stimmungsmäßig nicht so gut hierher. Er wollte ihn nämlich ernsthaft und tüchtig werden lassen, Mignon samt Anhang sollten verschwinden, und den Verlockungen des Südens sollte widerstanden werden.“
Man merkt hier deutlich, dass Mignon eine Figur seiner Jugendjahre ist – sicherlich dem Sturm-und-Drang noch zugehörig, aber eben auch der Romantik. Die Italienreise ist dann die Wende hin zur Klassik – und Mignon wird ein Opfer dieser Veränderung. Schön, dass die Literatur auch die früheren Stufen des Werks der großen Dichter bewahrt 😉

Weitere Infos, Tipps und Materialien

https://textaussage.de/weitere-infos