Herder, „Der Augenblick“ – oder: Die Frage nach dem Empfinden der Zeit (Mat991)

Worum es hier geht:

Wenn man sich fragt, wozu Gedichte eigentlich gut sind, dann hilft vielleicht so ein Beispiel wie „Der Augenblick“ von Johann Gottfried Herder.

Es macht auf ganz knappe, prägnante Weise deutlich, wie man in seinem Leben mehr Glück empfinden kann.

Johann Gottfried Herder

Der Augenblick

Warum denn währt des Lebens Glück
Nur einen Augenblick?
Die zarteste der Freuden
Stirbt wie der Schmetterling,
Der, hangend an der Blume,
Verging, verging.

Wir ahnen, wir genießen kaum
Des Lebens kurzen Traum.
Nur im unsel’gen Leiden
Wird unser Herzeleid
In einer bangen Stunde
Zur Ewigkeit.

  1. Das Gedicht von Johann Gottfried Herder mit dem Titel „Der Augenblick“ stellt gleich zu Beginn die Frage nach einer Besonderheit des Glückes im menschlichen Leben: Es dauert nämlich, wie der Titel schon andeutet, nur einen Augenblick. D.h., es ist nicht nur nicht dauerhaft, sondern zeitlich besonders begrenzt.
  2. In den verbleibenden vier Zeilen der ersten Strophe wird die „zarteste der Freuden“ (als Beispiel für einen besonderen Moment des Glücks) mit einem Schmetterling verglichen, dessen Leben auch besonders kurz ist. Die Wiederholung des Wortes „verging“ in der letzten Zeile macht die Betroffenheit, wohl sogar den Schmerz des lyrischen Ichs deutlich.
  3. In der zweiten Strophe wird diese besondere Situation beziehungsweise auch Erfahrung auf das ganze Leben ausgeweitet. Es wird zu einem kurzen Traum, den man weder in seiner ganzen Bedeutung weder „ahnen“ noch „genießen“ kann.
  4. Die letzten vier Zeilen der 2. Strophe stellen der Kürze des glücklichen Augenblicks die Länge des menschlichen Leidens entgegen. Hier wird die Zeit in einem negativen Sinne als Ewigkeit empfunden, obwohl es sich nur um den Zeitraum einer „bangen Stunde“ handelt.
  5. Insgesamt wendet sich das Gedicht einem Phänomen im menschlichen Leben zu, dass so selbstverständlich erfahren wird, dass man meistens darüber nicht nachdenkt. Dieses Gedicht gehört damit zu den Texten, die das Normale, Alltägliche intensiver wahrnehmen und gewissermaßen auf den schmerzhaften Punkt hin konzentrieren.
  6. Letztlich bleibt die Frage offen, ob das zeitliche Verhältnis von Glück und Leid im menschlichen Leben eher eine Frage der Realität ist oder eine der Empfindung, also der Psychologie.
  7. Im ersteren Fall würde sich dann die Frage der Theodizee stellen, nämlich die, warum Gott das Leiden in der Welt zulässt. Man kann aber wohl auch die Verantwortung in den Bereich des Menschen übertragen, der den Lebenstraum, also all das Wunderbare, das den Menschen umgibt, zu wenig achtet und genießt. Erst im Schmerz beziehungsweise im Leiden wird der Mensch sich seiner selbst stärker bewusst. Man wird erinnert an den von einem erfahrenen Arzt formulierten Satz: „Gesundheit ist das Schweigen der Organe.“
    Zu finden zum Beispiel hier:
    https://www.sueddeutsche.de/leben/medizin-und-wahnsinn-66-das-schweigen-der-organe-1.489070
  8. Gemeint ist damit, dass man sich selbst häufig erst spürt, wenn man aus der Normalität der Gesundheit herausfällt. Max Frisch hat es in seinem Tagebuch auf den extremsten punkt zugespitzt:
    „Erst im Nichtsein, das wir ahnen, begreifen wir für Aufenblicke, dass wir leben.“
    Zu finden zum Beispiel hier:
    https://www.zeit.de/1991/16/max-frisch-ein-album/seite-6
  9. Es lohnt sich also, rechtzeitig solch ein Gedicht zu lesen – vielleicht wird der Rest des Lebens zumindest hin und wieder bewusster erlebt – und Dankbarkeit für das scheinbar selbstverständlich Gute macht es ja nur noch wertvoller.

Weitere Infos, Tipps und Materialien 

https://textaussage.de/weitere-infos