Hesses „Ode an Hölderlin“
ist ein wunderbares Beispiel für den Umgang mit Vergangenheit in schwierigen Zeiten.
Da das Gedicht wie alle anderen Werke Hesses noch einige Zeit urheberrechtlich geschützt sind, verweisen wir hier nur kurz auf einen Ort, wo man es finden kann, und wenden uns dann lieber direkt dem zu, was an diesem Gedicht beeindruckt.
https://www.deutschelyrik.de/ode-an-hoelderlin.html
Aufbau eines sicheren Verständnisses
Das Verständnis des lyrischen Ichs für Hölderlin und die Bedeutung seiner Dichtung entwickelt sich in der „Ode an Hölderlin“ stufenweise, beginnend bei einer persönlichen, nostalgischen Beziehung und endend in einer universalen, spirituellen Erkenntnis des ewigen Heimwehs.
Hier wird dieser Aufbau stufenweise dargelegt:
Stufe: Aufbau eines persönlichen, dankbaren Bezugs (L. 1–4)
Das Verständnis beginnt auf einer privaten, nostalgischen und affektiven Ebene. Hölderlin wird zunächst als persönlicher Vertrauter oder Mentor in Erinnerung gerufen.
- Etablierung der persönlichen Beziehung: Hölderlin wird als „Freund meiner Jugend“ [1, Z. 1] angesprochen, zu dem das Ich „voll Dankbarkeit“ zurückkehrt [1, Z. 1].
- Schaffung eines Schutzraums: Das Verständnis ist an einen idyllischen, friedlichen Rückzugsort gebunden – den „entschlummerte[n] Garten“ [1, Z. 3] am Abend, wo man der Welt entfliehen kann.
Fazit dieser Stufe: Das Verständnis ist hier noch subjektiv und beschränkt sich auf die Funktion Hölderlins als Quelle des Trostes und der schönen Erinnerung.
Stufe: Relativierung durch den Kontrast zur profanen Gegenwart (L. 5–8)
Das private Verständnis der ersten Stufe wird nun relativiert und in einen größeren, gesellschaftskritischen Kontext gestellt. Dies dient der Erweiterung der Bedeutung Hölderlins vom „Jugendfreund“ zum unzeitgemäßen, geistigen Erneuerer.
- Feststellung der Isolation: Die Bedeutung Hölderlins wird durch die Erkenntnis geschärft, dass „Keiner kennt dich, o Freund“ [1, Z. 5] in der Öffentlichkeit.
- Kritik und Abgrenzung: Die „neuere Zeit“ wird als abtrünnig und profan beschrieben, da sie sich „von Griechenlands stillen Zaubern entfernt“ [1, Z. 6]. Die Gesellschaft ist „Ohne Gebet und entgöttert“ [1, Z. 7] und wandelt „nüchtern das Volk im Staub“ [1, Z. 8].
Fazit dieser Stufe: Das persönliche Verständnis wird zur elitären Wahrheit, da es im krassen Gegensatz zur geistigen Leere der Masse steht.
Stufe: Erweiterung zum geteilten, spirituellen Schicksal (L. 9–16)
Das Verständnis wird nun ausgeweitet und erhöht in den Bereich des Spirituellen und des Schicksalhaften. Es ist kein individuelles Gefühl mehr, sondern ein gemeinsames Bekenntnis.
- Definition der Eingeweihten: Die wahre Adressatin der Lieder ist eine „heimliche Schar innig Versunkener“ [1, Z. 9].
- Göttliche Legitimation der Sehnsucht: Das Kriterium für dieses Verständnis ist nicht intellektuell, sondern emotional und transzendent: Es sind jene, „Denen der Gott die Seele mit Sehnsucht schlug“ [1, Z. 10]. Das Leiden (Sehnsucht) wird zur Voraussetzung des Verstehens.
- Funktion der Dichtung: Hölderlins „göttliche Harfe“ [1, Z. 12] spendet Trost und wandelt die alltägliche Erschöpfung („vom Tag Ermüdete“ [2, Z. 13]) in eine heilige Erfahrung („ambrosischen Nacht deiner Gesänge“ [2, Z. 14]) und einen „goldenen Traum“ [2, Z. 16] um.
Fazit dieser Stufe: Das Verständnis hat sich zu einem Erlebnis der Verwandlung entwickelt, das nur einer Gruppe von Auserwählten zuteilwird.
Stufe: Vertiefung und Erkenntnis des ewigen Kerns (L. 17–20)
Die letzte Stufe stellt den Höhepunkt der Erkenntnis dar. Das Verstehen mündet in die schmerzhafte Definition der „Sehnsucht“ als Heimweh.
- Intensivierung des Schmerzes: Das Verständnis der Lieder steigert die emotionalen Zustände dramatisch: „glühender brennt, wenn dein Lied uns entzückt, / Schmerzlich brennt“ [2, Z. 17-18]. Die Freude am Lied ist untrennbar mit dem Schmerz der Unerfülltheit verbunden.
- Definition des Sehnsuchtsziels: Das eigentliche Ziel der Dichtung wird präzisiert: Die Lieder lassen das Heimweh nach „der Vorzeit seligem Land“ [2, Z. 18] und „den Tempeln der Griechen“ [2, Z. 19] brennen.
- Universalisierung der Erkenntnis: Das anfangs private Gefühl (Stufe 1) wird in eine ewige Wahrheit überführt: „Unser ewiges Heimweh auf“ [2, Z. 20].
Fazit dieser Stufe: Das Verständnis ist nun vollständig und erweitert sich zur existenziellen Einsicht, dass Hölderlins Dichtung der tiefste Ausdruck des ewigen, schmerzhaften Heimwehs der menschlichen Seele nach einem verlorenen Idealzustand ist.
Insgesamt ein Gedicht, das nach Flucht aus der Gegenwart aussieht, die aber vor dem Hintergrund der „Ahnen-Losigkeit“ (so nennen wir das mal) der Gegenwart gesehen werden muss. Gemeint ist der Verlust bzw. die Preisgabe all dessen, was die Vorfahren an kulturellen Werten geschaffen haben. Gemeint sind damit sicherlich noch vorhandene Lieder großer Künstler, wie Hölderlin einer war.
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Aber viel wichtiger ist, dass man sich auch von den „stillern Zaubern entfernt“ hat, nicht mehr „beschattet“ ist „mit goldenem Traum.“
Hesses Gedicht und die Anklänge an die Romantik
- Das Gedicht „Ode an Hölderlin“ von Hermann Hesse weist in erheblichem Maße und in mehreren zentralen Motiven Anklänge an die Romantik auf.
- Diese zeigen sich insbesondere
- im Rückzug aus der als profan empfundenen modernen Welt,
- in der Verklärung der Nacht und des Traumes
- sowie in der zentralen Rolle der Sehnsucht und des Heimwehs nach einer idealisierten Vergangenheit.
Im Folgenden werden die romantischen Elemente des Gedichts aufgezeigt und mit entsprechenden Zitaten belegt:
Der romantische Rückzug und die Natur als Zuflucht
Ein wichtiges romantisches Motiv ist der Rückzug in die Stille, die Natur oder die Erinnerung, fernab des Alltags. Das lyrische Ich sucht die Geborgenheit der Jugend und die beschauliche Atmosphäre des Abends auf.
- Rückkehr und Erinnerung: Das Ich kehrt „voll Dankbarkeit“ zu einem „Freund meiner Jugend“ zurück [1, Z. 1].
- Idyllische Abendstimmung: Die Szenerie wird als „entschlummerter Garten“ geschildert, in dem nur „der rauschende Brunnen noch tönt“ [1, Z. 3-4]. Solche intimen, nächtlichen Naturszenen sind typisch für die romantische Idyllik.
Sehnsucht und Heimweh als zentrale Emotionen
Die Sehnsucht gilt als die typischste romantische Empfindung, oft verbunden mit Schmerz und der Suche nach dem Absoluten.
- Der göttliche Schmerz der Sehnsucht: Das Gedicht spricht von einer „heimlichen Schar innig Versunkener, / Denen der Gott die Seele mit Sehnsucht schlug“ [1, Z. 9-10]. Diese Sehnsucht wird als göttlich inspirierte Bürde oder Aufgabe dargestellt.
- Intensiviertes Heimweh nach der Idealwelt: Die emotionalen Zustände werden durch die Musik Hölderlins („dein Lied“) extrem verstärkt („glühender brennt“, „schmerzlich brennt“) [2, Z. 17-18]. Das Ziel dieser schmerzhaften Emotion ist das „Vorzeit seligem Land“ und „die Tempeln der Griechen“ [2, Z. 18-19].
- Ewige, unerreichbare Sehnsucht: Diese idealisierte Ferne äußert sich als „Unser ewiges Heimweh“ [2, Z. 20].
Verklärung der Nacht und des Traumes
Die Romantik idealisierte die Nacht als Sphäre des Unbewussten, des Erhabenen und des Traumes, im Gegensatz zur nüchternen Realität des Tages.
- Flucht vor dem Tag: Das lyrische Wir wendet sich „vom Tag Ermüdete“ sehnlichst der „ambrosischen Nacht deiner Gesänge zu“ [2, Z. 13-14]. Die Nacht ist hier heilsbringend und göttlich (ambrosisch) überhöht.
- Der goldene Traum: Die Lieder beschatten die Suchenden mit einem „goldenem Traum“ [2, Z. 16], was die romantische Idee der Einheit von Poesie, Traum und Wirklichkeitsflucht aufgreift.
Kontrast zur entgötterten Gegenwart
Die Ablehnung der Moderne als geistlos und rational ist ein zentraler Aspekt der Romantik, die oft in einer Gegenüberstellung von Ideal (Hölderlin/Griechenland) und Realität (neuere Zeit) erfolgt.
- Kritik an der Gegenwart: Die „neuere Zeit“ hat sich „von Griechenlands stillen Zaubern entfernt“ [1, Z. 5-6].
- Entgötterung und Profanität: Die moderne Gesellschaft wird als „Ohne Gebet und entgöttert“ beschrieben, und das Volk wandelt „nüchtern… im Staub“ [1, Z. 7-8]. Dies unterstreicht die Notwendigkeit des romantischen Rückzugs in das Reich der Poesie.
Der Kreis der Eingeweihten
Die Romantik neigt zum Elitarismus; die tiefen Wahrheiten sind nur für eine kleine Gruppe empfänglicher Seelen zugänglich, während die Masse profan bleibt.
- Exklusivität der Erfahrung: „Keiner kennt dich, o Freund“ (Hölderlin) [1, Z. 5].
- Die „heimliche Schar“: Nur „der heimlichen Schar innig Versunkener“ [1, Z. 9] erklingen die Lieder der „göttlichen Harfe noch heut“ [1, Z. 12]. Diese kleine Gruppe teilt die göttlich inspirierte Sehnsucht und bewahrt die spirituellen Werte.