Im Folgenden wollen wir mal ausprobieren, was sich ergeben könnte, wenn jemand den Anfang von Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ liest und sich seine Gedanken dazu macht 😉
Es geht also ausnahmsweise nicht um Analyse und Interpretation, sonder um genaues Hinschauen, Auf-sich-wirken-Lassen“ und dann ein paar Gedanken und vielleicht auch Einfälle.
Franz Kafka,
Die Verwandlung
Gedanken eines zunehmend interessierten Lesers
- Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.
- Ein hammerartiger Einstieg. Das mit den „unruhigen Träumen“ geht ja noch, das hat man schon mal. Aber dann die Sache mit dem „ungeheueren Ungeziefer“ – das ist schon ziemlich stark und ohne jede Rücksichtnahme. Mensch, Kafka, heute kämst du mit so was nicht mehr gut. Einfach zu wenig Empathie, also Mitgefühl.
- Außerdem: Wer spricht hier eigentlich, das ist ja wohl der Erzähler. Denn der arme Gregor kann das ja noch gar nicht wissen – dem wird das ja wohl erst nach und nach klar. Und dann das Attribut „ungeheuer“ – was soll das denn an der Stelle? Ob Kafka in einem Seminar für Nachwuchsschriftsteller mit diesem ersten Satz schon durchgefallen wäre?
- Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
- Auch hier fragt man sich, ob das die ersten Beobachtungen bzw. Gedanken sind, die einem kommen, wenn man sich morgens nach dem Aufwachen so vorfindet.
- Kommt man da wirklich gleich auf „panzerartig“? Oder ist es hier wieder der Erzähler, der schon alles weiß?
- Das mit den Beinen dagegen kommt schon ziemlich nahe an das, was man selbst nachvollziehen kann.
- »Was ist mit mir geschehen?«, dachte er.
- Jetzt endlich eine Frage, der man sich ohne Einschränkungen anschließen kann 😉
- Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender – hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.
- Nach einem Gedanken, der direkt so bei Gregor entstehen könnte – präsentiert in erlebter Rede – also nicht „Es ist kein Traum, dachte er erschrocken.“ Sondern eine wohl eher nüchterne Feststellung des Erzählers.
- Genauso geht es weiter, wenn jetzt das Zimmer genauer beschrieben wird. Bei „Samsa war Reisender“ muss der Erzähler nun auch wirklich noch was einschieben. Man fragt sich hier wirklich: Könnte man das nicht auch aus Gregors Perspektive erzählen? Und was würde das bewirken?
- Das mit der Dame wird man im Gedächtnis behalten müssen. Jetzt wirkt es erst mal etwas seltsam. Hat der Mann keine anderen Probleme als jemand, der plötzlich zu einem „Ungeziefer“ geworden ist?
- Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. »Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße«,
- Jetzt komme es wieder knüppelhart: Der Mann hat einen Panzer unter sich und zu dünne Beine, die er nicht kontrollieren kann.
- Und dann will er einfach weiterschlafen und alle „Narrheiten“ vergessen?
- Wie wäre es mit ein bisschen Situationsklärung, vielleicht einem Hilferuf?
- dachte er, aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der rechten Seite zu schlafen, konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloss die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann.
- Fast denkt man: Na ja, das geschieht dir gerade recht, wenn du dich so wenig um deine Situation kümmerst.
- Jetzt musst du wohl langsam deine Lage ernst nehmen und dir was einfallen lassen.
- »Ach Gott«, dachte er, »was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tag aus, Tag ein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer, als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!«
- Also, um es mal vorsichtig zu sagen: Man ist hier doch ein bisschen überrascht, woran dieser Mann jetzt so denkt.
- Hat er möglicherweise ein ganz anderes Problem als sein scheinbar neues „Ungeziefer“-Dasein?
- Hat er sich vielleicht vorher schon so gefühlt – und jetzt ist diese Einsicht gewissermaßen aus ihm herausgebrochen?
- Er fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf besser heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen weißen Pünktchen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand; und wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber gleich zurück, denn bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer.
- Jetzt holt ihn also die neue Wirklichkeit wieder ein.
- Der „Kälteschauer“ dürfte wohl Ausdruck seines Entsetzens sein, das der Verstand vielleicht noch nicht akzeptiert, das sein Körper ihm aber deutlich signalisiert.
- Er glitt wieder in seine frühere Lage zurück. »Dies frühzeitige Aufstehen«, dachte er, »macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muss seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben wie Haremsfrauen. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen diese Herren erst beim Frühstück. Das sollte ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen. Wer weiß übrigens, ob das nicht sehr gut für mich wäre. Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef hin getreten und hätte ihm meine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muß. Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn abzuzahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern – , mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings muß ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf.«
- Tja, wer jetzt nicht misstrauisch gegenüber der „Ungeziefer“-These des Erzählers wird, dem ist nicht zu helfen. Spätestens hier ist doch woh lklar, dass dieser Gregor ganz andere Probleme hat als eine Verwandlung in ein Tier. Da scheint ja schon vorher einies „menschlich“ nicht so optimal gelaufen zu sein.
- Auf jeden Fall freut uns der kleine Ausbruch: „Dann wird der große Schnitt gemacht.“ Allerdings ist war die Emotionalität an der Teufelstelle weiter oben noch etwas höher.
- Und er sah zur Weckuhr hinüber, die auf dem Kasten tickte. »Himmlischer Vater!«, dachte er. Es war halb sieben Uhr, und die Zeiger gingen ruhig vorwärts, es war sogar halb vorüber, es näherte sich schon dreiviertel. Sollte der Wecker nicht geläutet haben? Man sah vom Bett aus, dass er auf vier Uhr richtig eingestellt war; gewiss hatte er auch geläutet. Ja, aber war es möglich, dieses möbelerschütternde Läuten ruhig zu verschlafen? Nun, ruhig hatte er ja nicht geschlafen, aber wahrscheinlich desto fester.
- Hier ist man doch sehr erstaunt, dass er sich so sehr für die Frage interessiert, wie spät es ist und was mit dem Wecker war.
- War er nicht gerade zu einem „ungeheueren Ungeziefer“ geworden?
- Was aber sollte er jetzt tun? Der nächste Zug ging um sieben Uhr; um den einzuholen, hätte er sich unsinnig beeilen müssen, und die Kollektion war noch nicht eingepackt, und er selbst fühlte sich durchaus nicht besonders frisch und beweglich. Und selbst wenn er den Zug einholte, ein Donnerwetter des Chefs war nicht zu vermeiden, denn der Geschäftsdiener hatte beim Fünfuhrzug gewartet und die Meldung von seiner Versäumnis längst erstattet. Es war eine Kreatur des Chefs, ohne Rückgrat und Verstand. Wie nun, wenn er sich krank meldete? Das wäre aber äußerst peinlich und verdächtig, denn Gregor war während seines fünfjährigen Dienstes noch nicht einmal krank gewesen. Gewiss würde der Chef mit dem Krankenkassenarzt kommen, würde den Eltern wegen des faulen Sohnes Vorwürfe machen und alle Einwände durch den Hinweis auf den Krankenkassenarzt abschneiden, für den es ja überhaupt nur ganz gesunde, aber arbeitsscheue Menschen gibt. Und hätte er übrigens in diesem Falle so ganz unrecht? Gregor fühlte sich tatsächlich, abgesehen von einer nach dem langen Schlaf wirklich überflüssigen Schläfrigkeit, ganz wohl und hatte sogar einen besonders kräftigen Hunger.
- Hier wird das ganze schon fast zur Satire. Dieser Mann macht sich nur Sorgen, die sich jemand macht, der halt verschlafen hat.
- Am Ende dann der Gipfel des Kontrastes zum Ausgangssatz: Der Mann fühlt sich eigentlich „ganz wohl“ und denkt nur an seinen Hunger.
- Hier stimmt doch alles vorne und hinten nicht. Die „Ungeziefer“-Situation ist ja ganz gut beschrieben – aber die Reaktion dieses Menschen darauf ist wirklich so was von „daneben“ – und das ist hier ganz bewusst gesagt, dass man einfach nur wissen möchte, wie das hier weitergeht.
- Also das hat Kafka mit dem ersten Abschnitt auf jeden Fall erreicht.