Kimia Tivag, Die glückliche Täuschung (Mat9473-dgt)

Worum es hier geht:

Wir präsentieren hier eine Geschichte, in der es um Bedürfnislosigkeit geht – Stoff für Diskussionen und Stellungahmen.

Hier zunächst eine Vorschau.

Dann eine Druckvorlage

Mat9473-dgt Kimia Tivag, Die glückliche Täuschung V1.3

Und darunter der Text zum Lesen.

Kimia Tivag

Die glückliche Täuschung

 

Als Lea an diesem Nachmittag die Wohnungstür aufschloss, schlug sie sie lauter auf, als nötig gewesen wäre. Nicht aus Trotz — sondern vor Begeisterung. Sie war wie elektrisch geladen. Der Philosophieunterricht hatte etwas in ihr bewegt.

„Mama? Papa?“, rief sie schon im Flur, „ihr glaubt gar nicht, was wir heute gemacht haben!“ Die Mutter tauchte aus der Küche auf, noch mit Mehl an den Händen, und strahlte automatisch zurück. „Na, das klingt ja nach Feuer.“

Lea setzte sich an den Esstisch, halb stehend, halb fallend, als könne sie es nicht erwarten, ihr Inneres zu entladen. „Also“, begann sie, „wir haben über Freiheit gesprochen. Und Diogenes! Und unser Lehrer hat Me and Bobby McGee vorgespielt — diesen Song mit der Zeile ‚Freedom’s just another word for nothing left to lose.‘ Und er meinte, das sei die Art von Freiheit, bei der man nichts mehr braucht – außer sich selbst.

Die Mutter nickte. Sie mochte diesen Lehrer. Er war einer, der die Kinder hörte. Der Vater kam nun dazu, mit einem Glas Wasser, die Brille etwas zu weit auf der Stirn.
„Moment“, sagte er, „das klingt mir sehr nach philosophischer Pyrotechnik. Schön, aber gefährlich.“

„Papa“, stöhnte Lea, „nicht schon wieder deine Realitätsschere.“ Doch er lächelte mild. „Ich will dir die Begeisterung nicht nehmen. Aber das Bild stimmt nur halb. Diogenes war in dem berühmten Moment frei, als König Alexander ihm einen Wunsch erfüllen wollte. Da sagte er nur: „Geh mir aus der Sonne.“ Das hat ihn unsterblich gemacht im Gedächtnis der meisten Menschen – aber das sind nur besondere Augenblicke – zum Leben gehört mehr. Er braucht was zu essen, vielleicht auch mal einen Arzt. Manche Leute könnten sich sogar von so viel demonstrierter Zufriedenheit provoziert fühlen.

Lea presste die Lippen zusammen. „Er war in dem Moment aber glücklich – und ich war es bis eben auch. Du sorgst genauso für Schatten wie damals Alexander. Nur der machte es unabsichtlich. Bei dir weiß ich das nie. Wieso gönnst du mir nicht einen Moment, in dem man zumindest eine Ahnung von Freiheit bekommt.

Der Vater nickte langsam. „Mehr ist es aber auch nicht. Es ist ein kurzer, schöner Schein, der mit der Realität nichts zu tun hat. Oder willst du demnächst irgendwo in einem Zelt schlafen.“

Lea stand auf. Nicht aggressiv — eher abgegrenzt. „Weißt du was?“, sagte sie leise. „Danke, Papa. Dir ist es gelungen, meine glückliche Täuschung heute Abend zu verkürzen. Ohne dich hätte sie vielleicht bis morgen gehalten.“

Im Türrahmen spürte sie die Hand ihrer Mutter: „Mach dir nicht so viel draus. Ich verstehe dich. Ohne solche Momente glücklicher Täuschung, würde ich das Leben gar nicht aushalten.“ Lea blieb kurz stehen. Sie wusste nicht, ob dieser Satz eher Trost war oder ein kleines Geständnis der Mutter. Oder beides.

Sie schlüpfte in ihre Schuhe. „Ich gehe zu Mia“, sagte sie, „wir wollten mal schauen, ob wir noch mehr über diesen Diogenes erfahren.“

Aus: Durchblicke bis auf Widerruf – Online-Zeitschrift für Schule und Studium 11/2026