Beispiel für Probe-Arbeit: Analyse u. Interpretation von „San Salvador“
1. Thema klären, möglichst als Frage: Bei dem Text handelt es sich um eine Kurzgeschichte von Peter Bichsel mit dem Titel „San Salvador“, in der es um die Frage der Realisierbarkeit des Ausbruchs aus einem unbefriedigenden Leben geht.
2. Erzählschritte erläuternd vorstellen, nicht paraphrasierend (mit Zitaten und Belegen)
1. Zeile 1-7: Vorstellung der Hauptfigur Paul im Moment des Aktivseins mit deutlichem Hinweis auf die Unzufriedenheit mit seinem jetzigen Leben, bei dem ihm „kalt“ (4) ist, und einem möglichen besseren Leben in „Südamerika“(4). Deutlich wird eine außergewöhnliche Sorgfalt (das Adjektiv „sorgfältig“ wird in Zeile 3 explizit erwähnt), die ans Pedantische grenzt. Interessant ist außerdem, dass der Brief, der hier entsteht, an seine Eltern gerichtet ist (vgl. 3). Seine eigentliche Familie spielt für diese Figur in diesem Moment anscheinend keine Rolle. Zu erwähnen wäre auch noch, dass dieser Paul ein eher nachdenklicher, mit seinem Innenleben beschäftigter Mensch ist, was an dem Satz in eckigen Klammern deutlich wird (5/6).
2. Zeile 8-11: Bezeichnend für die zentrale Figur ist, dass nach dem offensichtlichen Aktivitätshöhepunkt im ersten Abschnitt erstmal eine Ruhephase eintritt, für die die Feststellung in Zeile 9: „dachte an irgendetwas“ symptomatisch ist. Auffallend ist auch, dass der „Zettel mit den Wellenlinien“(10), die wohl ganz allgemein für Bewegung und Veränderung stehen, zerrissen wird. Auch wenn der Hinweis auf die Kinovorstellung, für die es jetzt „zu spät“ ist, nicht direkt etwas mit den anfangs angedeuteten Veränderungsplänen zu tun hat, so kann man ihn doch wohl auch darauf beziehen.
3. Ab Zeile 12 kommt dann erstmals eine Hildegard ins Spiel, die wohl seine Ehefrau sein dürfte. Paul wartet auf sie, ohne dass das näher erläutert würde, man kann aber wohl annehmen, dass er ziemlich von ihr abhängig ist und dass ohne sie sein Leben nicht viel Inhalt hat.
4. In den Zeilen 14-16 wird noch einmal der am Anfang der Kurzgeschichte erreichte Zustand wiederholt und noch einmal betont, wie unglücklich Paul wohl in seiner Welt zu sein scheint.
5. In den Zeilen 17-24 wird ausführlich dargestellt, wie Paul sich Hildegards Reaktion auf sein Verschwinden und seine entsprechende Mitteilung vorstellt. Zum einen ist interessant, wie wenig sich der Mann um sein eigentliches Ziel kümmert, wie sehr er noch mit seinem alten oder besser: aktuellen Leben beschäftigt ist. Deutlich wird außerdem, wie wenig ihm seine Frau eine wirkliche Flucht in ein anderes Leben zutraut. Das kleine Vorstellungselement mit dem „Löwen“ (wohl einem Gasthof o.ä.) könnte andeuten, dass die Frau im Vergleich zu ihm eher schnell entschlossen und tatkräftig ist, dabei auch Fehler macht, aber darüber auch lächeln kann. Vielleicht bezieht sich das aber auch auf ihn selbst, der als Partner nicht sonderlich ernst genommen wird. Paul glaubt, dass sie, was ihn und seine Flucht angeht, einerseits verzweifeln würde, sich wahrscheinlich aber auch damit abfinden würde. Das nachgeschobene kleine Wort „vielleicht“ könnte andeuten, dass er sich dessen aber nicht sicher ist, es vielleicht auch nicht hofft. Die Zeilen 23 und 24 zeigen dann ein hohes Maß an Vertrautheit mit der Partnerin und vergrößern damit die Wahrscheinlichkeit, dass er sich aus solchen Verhältnissen nicht lösen kann.
6. Die Zeilen 25-28 präsentieren dann eine erneute Phase relativen Stillstands und der Orientierungslosigkeit, aber auch am Ende das Schwanken zwischen den „Palmen“ (27), also dem Ort seiner Sehnsucht, und „Hildegard“ (27) als dem Inbegriff seiner jetzigen Existenz.
7. Die letzten beiden Zeilen zeigen dann, was der Leser schon erwartet hat, dass dieser Paul nicht flieht, sondern bleibt. Interessant ist, dass Hildegard als erstes danach fragt, ob die Kinder schlafen, das zeigt Verantwortung und Realitätsbewusstsein, anschließend passiert genau das, was Paul bereits erwartet hat, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, es gibt eine Geste seiner Frau, die er schon kennt, was wohl andeuten soll, dass sie jetzt das ganz normale Leben weitergeht – es sei denn, sie entdeckt den Zettel aus Zeile 27 – mit ungewissem Ausgang.
3. Textsignale zur Textintention bündeln [hier könnte man dann auch die Figurencharakteristik unterbringen, denn dabei trägt man ja bereits systematisch eine Intention zusammen]
1. Wenn man die Signale des Textes bündelt, dann fällt zunächst einmal der Widerspruch zwischen dem Wunsch des Protagonisten nach Flucht aus dem bisherigen, als zu „kalt“ empfundenen Leben und seinem tatsächlichen Zögern auf.
2. Dabei ist es weniger die Liebe zu seiner Frau oder zu seinen Kindern als ein Festhalten an alten Gewohnheiten.
3. Die Frau scheint sehr viel weniger Probleme mit dem gemeinsamen Leben zu haben, sie lebt es einfach, hat offensichtlich auch Hobbys und stellt sich ihren Verpflichtungen, zum Beispiel gegenüber den Kindern.
4. Am Ende steht die Fortführung des Gewohnten, alles war offensichtlich umsonst: Es reicht eben nicht, sich nur viel vorzustellen und einiges auch sorgfältig aufzuschreiben, man muss auch wirklich aktiv werden und Risiken auf sich nehmen, wenn man Veränderungen tatsächlich für sich erreichen will.
4. künstlerische Mittel in ihrer Funktion erkennen und erklären, woraus man dann als Summe die künstlerische Eigenart ab leiten kann
1. Zur künstlerischen Eigenart dieses Textes gehört vor allem die Beschreibung der Tätigkeiten der Hauptfigur. Es beginnt mit einer lakonisch – knappen Feststellung zum Kauf einer Füllfeder, an die dann eine relativ breite Folge von Einzeltätigkeiten angehängt wird, die aber alle letztlich ins Leere führen und nichts zu tun haben mit dem scheinbar eigentlichen Ziel, des Weggangs nach Südamerika.
2. Der Kontrast, der Gegensatz zwischen dem realen Tun und den Nur-Schreibaktivitäten ist also ein wichtiges Mittel in dieser Geschichte.
3. Ein weiteres Mittel ist die Wiederholung: Ab Zeile 8 kommt wieder ein kurzer Satz und dann eine Aneinanderreihung von Tätigkeiten, die wiederum nicht wirklich etwas bringen.
4. Festzustellen ist hier allerdings auch eine Steigerung: Der Einstiegssatz ist noch kürzer als der in Zeile 1, bei den Tätigkeiten finden sich bereits Verben der Aufgabe, des Zerstörens der eigenen Absichten und Hoffnungen: „zerriß den Zettel mit den Wellenlinien“ (10), „entleerte seine Feder“, die wird dann zwar wieder gefüllt, aber es folgt das wichtige Signal „zu spät“.
5. Interessant vielleicht noch das Possessivpronomen „seine Feder“ (10) – das Schreiben scheint das Einzige zu sein, was diesem Menschen ein bisschen eigenes Leben gibt.
6. Dazu passt auch die ausführliche, fantasievolle Darstellung der Gedanken des Protagonisten, die sich aber auf das falsche Objekt richten. Statt sich mit seiner Zukunft zu beschäftigen, denkt er darüber nach, was seine Frau tun würde, wenn er überhaupt weg ginge.
7. Wichtig sind diese Gedanken vor allem deshalb, weil sie viel Gewohnheit zeigen, die wohl stärker ist als der Wunsch und die Möglichkeit zur Flucht. Bezeichnend ist, dass der Text mit einer typischen Bewegung der Frau endet, sie hat zwar nicht das letzte Wort, aber sie präsentiert die letzte Aktivität. Die eigene des Mannes, mit der die Kurzgeschichte begann, ist völlig ins Leere laufen.
8. Was durchaus auch zur künstlerischen Eigenart gehören kann, ist das, was gerade nicht präsentiert: In dieser Geschichte fehlt alles Positive, es gibt keinen Lichtblick. Sollte die Frau glücklicher sein als er, so erfährt der Leser zumindest nichts davon und das, was die Frau als erstes beim Heimkommen im Kopf hat und sagt, spricht auch nicht dafür.
5. Sinnpotenzial ermitteln
1. Wenn man sich fragt, worauf sich die Geschichte beziehen lässt, dürften das zum einen alle Situationen sein, in denen ein Mensch unzufrieden ist mit seiner Situation oder sogar unglücklich und von einer anderen besseren Welt träumt.
2. Als ein zweites Element möglichen Vergleichs oder möglicher Übertragung kommt die Passivität, die zu geringe Veränderungskraft, die die zentrale Figur dieser Geschichte kennzeichnet.
3. Letztlich ist es eine traurige Geschichte, die zwar ganz viel Stabilität zeigt, aber eine des Leerlaufs, der Gewohnheit. Eine positive Alternative wird nur an wenigen Stellen deutlich, die „Palmen“ Südamerikas wirken letztlich genauso eingetrocknet wie die Tinte, mit der man seine Sehnsüchte zumindest auf dem Papier andeutet.
4. Man kann die Geschichte sicherlich nicht nur auf Beziehungssituationen übertragen, sondern zum Beispiel auch auf berufliche Verhältnisse
6. Inwiefern und Inwieweit eine Kurzgeschichte
1. Um eine Kurzgeschichte handelt es sich in diesem Fall auf jeden Fall, denn man hat einen direkten Einstieg, ein zumindest ansatzweise offenes Ende. Man weiß nämlich als Leser nicht, ob die Frau nicht doch vielleicht den Zettel entdeckt – mit unabsehbaren Folgen. Außerdem handelt es sich um einen Ausriss aus dem ganz normalen Leben einer Person, in dem es zumindest ansatzweise das Potenzial für einen Wendepunkt gibt.
2. Auch die Sprache erscheint insgesamt eher alltäglich, ausgefeilte künstlerische Mittel sind nicht zu finden.
3. Bleibt die Frage, inwieweit es sich um eine Kurzgeschichte handelt: Hier kann man wohl feststellen, dass das fast idealtypisch der Fall ist, weil die Geschichte auf knappstem Raum und in ganz alltäglichen Situationen alles zeigt, worauf es ankommt: die kleinen, unbestimmten Sehnsüchte des Mannes und ihre für die Verwirklichung unzureichende Anziehungskraft.
Nachtrag zum Thema „Erzählhaltung“
Wer leicht verständliche Beispiele für die Frage der Erzählhaltung in dieser Kurzgeschichte sucht, sollte sich die folgende Seite mal ansehen:
https://wvm.schnell-durchblicken3.de/personales-erzaehlen-am-beispiel-von-peter-bichsel-san-salvador