Klausur: Goethe, „Iphigenie“, V-3 – und die Frage nach der „schönen Seele“ (Mat7024)

Worum es hier geht:

Präsentiert wird eine Klausur zu einer Szene aus Goethes „Iphigenie“, die

  • zunächst die Analyse einer Szene verlangt – und zwar mit Schwerpunkt auf der dramatischen Entwicklung des Konflikts
  • und dann die Erörterung einer Frage, die sich auf das Klassik-Konzept von Goethe und Schiller bezieht.

Aufgabenstellung:

  1. Analysieren Sie den dritten Auftritt des fünften Aufzugs (Vers 1804-1992) unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung des dramatischen Konflikts.
  2. Goethes Iphigenie gilt als Inbegriff der Idee einer „schönen Seele“, die in ihrem Denken und Handeln Harmonie herstellt zwischen der „Neigung“ (also den persönlichen Wünschen) und der „Pflicht“ (sittlich-moralischen Verpflichtungen). Inwieweit gelingt ihr das in diesem Auftritt?

Lösungshinweise

  1. Analysieren Sie den dritten Auftritt des fünften Aufzugs (Vers 1804-1992) unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung des dramatischen Konflikts.
    • Gleich Kern des Problems: Aufschieben des Opfers
    • Kommen dann aber gleich auf den eigentlichen Kern = unterschiedliche Auffassungen im Hinblick auf das Opfer selbst; Iphigenie sieht ein „älteres“ (1834) Gesetz, das der Gastfreundschaft
    • Thoas argumentiert daraufhin in Machtkategorien und vermutet richtig persönliche Motive (1837-1842)
    • Iphigenie weicht aus in die halbe Wahrheit des ähnlichen Schicksals und setzt dem Machtanspruch ihre Persönlichkeit entgegen (1841-1854)
    • 1855: Thoas betont die Pflicht des Dienstes, Iphigenie weicht aus in Männer-Frauen-Gegensatz
    • 1865ff: Thoas macht Zugeständnis der Achtung auch des weiblichen Wortes, woraufhin Iphigenie das Thema List gegen Gewalt ins Spiel bringt, woraufhin Thoas auf die notwendige Vorsicht abhebt.
    • 1873ff: Iphigenie geht auf ihre inneren Kämpfe ein und spricht offen über die Fragen, die sie sich stellt, aber auch ihre Hilflosigkeit.
    • 1886ff: Thoas hilft ihr, indem er sie nach der Identität der Fremden fragt, Iphigenie weicht aus, auf den Impuls der Rückkehrhoffnung kommt die Wende: Iphigenie denkt lange nach und arbeitet sich dann in einer Art Monolog zum Sprung in die Wahrheit vor (1919ff) – verbunden wird das mit der Beantwortung der Frage nach der Identität und abgeschlossen mit einem Appell an das Pflichtgefühl des Thoas, implizit ist seine Menschlichkeit gefragt, nicht die Beachtung alter Gesetze
    • Dass es so gemeint ist, zeigt die Reaktion des Thoas in 1937ff eine Schlüsselstelle des Dramas, Frage nach der Menschlichkeit, die wichtiger ist als Herkunft, Realität ist wichtiger als Anspruch.
    • Iphigenie antwortet ab 1939ff zwiegespalten, auf der einen Seite ihre Grundhaltung, dann aber auch zunehmende Sorge, ob sie richtig gehandelt hat. Das wird fast schon zu Panik und Verzweiflung und macht deutlich, wie risikoreich und mutig Iphigenies Sprung war.
    • Thoas scheint das auch zunächst zu bestätigen, denn er nennt die Fremden „Betrüger“ (1953), die Iphigenie zum Opfer ihrer Verführung gemacht haben.
    • Iphigenie nimmt ab 1957 den Vorwurf des Betrugs auf und beteuert noch einmal die Wahrheit der Identität und verbindet das mit dem alten Versprechen des Königs, sie ziehen zu lassen, wenn sie eine Chance auf Heimkehr hat. Geschickt appelliert sie an seinen Status als König mit der entsprechende Verantwortung.
    • Ab 1979 wird deutlich, wie Iphigenies Frauenwort auf den König wirkt – und dass er offen darüber spricht, zeigt seine Ebenbürtigkeit in der Frage der Menschlichkeit.
    • Der Schluss wirkt dann wie ein Zweikampf, bei dem der König zurückweicht. Deutlich wird das an Vers 1986, wo Thoas eine lange Linie der Wirkung Iphigenies auszieht.
    • Den Schluss bildet der Appell Iphigenies an das Gefühl – Thoas soll also auch in der Entscheidung den gleichen Weg gehen, den sie mit ihrem Sprung gegangen ist. Offensichtlich ist Iphigenie sich jetzt ihrer Sache wieder sicher, hat die Angst des Zweifels und der Sorge überwunden.
    • Unterbrochen wird der Wechsel der Worte durch das Erscheinen des Schwertes.

Zusammenfassung:

  • Haben wir am Anfang noch das unehrliche Geplänkel, das das Verhältnis der Königsseite mit der der Griechenseite auszeichnete, so stellen beide zusammen eine Situation her, in der der Sprung in die Wahrheit möglich ist.
  • Iphigenie schildert offen ihre Situation und geht dabei auch auf das Element der List ein. Thoas durchschaut sie, greift aber nicht zur Gewalt, sondern fragt nach der Identität der Fremden und damit indirekt auch nach der Chance auf Rückkehr, die zuzulassen er ja versprochen hat.
  • Nach langem innerem Kampf, in voller Einsicht des Risikos legt sie wortwörtlich ihr Schicksal in die Hände des Königs und fordert ihn auf, seinem Ruf der Wahrhaftigkeit zu entsprechen. Entscheidend ist hier, dass er die Wahrheit verherrlichen soll, d.h. ihren Sprung in die Wahrheit mit einer ebensolchen Großzügigkeit vergelten.
  • Während Thoas das schon aufnimmt und implizit zu seiner Aufgabe macht, stürzt Iphigenie kurzzeitig in Verzweiflung, nimmt dann aber einen Impuls des Königs auf, um zu alter Größe zurückzufinden. Am Ende leistet Thoas nur noch hinhaltenden Widerstand, eigentlich ist die Sache jetzt schon entschieden, der eingeschlagene Weg hin zur Wahrheit und zu ihrer belohnenden „Verherrlichung“ muss nur noch zu Ende gegangen werden, was dann auch in V,4-6 geschieht.

Lösung der Aufgabe 2

  • Goethes Iphigenie gilt als Inbegriff der Idee einer „schönen Seele“, die in ihrem Denken und Handeln Harmonie herstellt zwischen der „Neigung“ (also den persönlichen Wünschen) und der „Pflicht“ (sittlich-moralischen Verpflichtungen). Inwieweit gelingt ihr das in diesem Auftritt?
  • Iphigenie steckt zunächst tatsächlich in dem Dilemma
  • Da sind zum einen ihre Wünschen und Hoffnungen, wie sie sie bereits im Einstiegsmonolog deutlich werden lässt.
  • Die werden verstärkt durch das Erscheinen ihres Bruders und dessen Heilung.
  • Problematisch wird alles durch den Lügenweg des Pylades, dem sie phasenweise verfällt, von dem sie sich aber immer wieder auch löst, am deutlichsten in in der „Ach“-„Weh“-Abfolge in ihrem Monolog in der zweiten Szene des vierten Aktes.
  • Denn ihrer Neigung steht ein ganz spezifisches Pflichtgefühl gegenüber, kein äußerliches, mit dem Amt verbundenes, sondern ein inneres, das zentralen moralischen Impulsen folgt – und dazu gehört vor allem die Wahrheit, kombiniert mit mitmenschlicher Loyalität. Die Distanz zu lügenhaften Lösungen wird vor allem deutlich in ihrem Monolog zu Beginn des 4. Aktes (1405ff), die Beeitschaft zur Rücksichtnahme auf andere Menschen wird vor allem im dritten Auftritt des 4. Aktes in 1523ff deutlich.
  • Gekennzeichnet sind weite Passagen des Stücks durch den inneren Kampf der Iphigenie, ihr Ringen, das zu verschiedenen Positionswechseln führt und schließlich – wie die zu analysierende Szene zeigt – in einem Sprung in die Wahrheit mündet. Aber selbst der wird zumindest noch einmal kurz durch die Sorge in Frage gestellt, ob sie nicht zu weit gegangen ist, zu viel Risiko auf sich genommen hat.
  • Damit zeigt sich Iphigenie insgesamt als „schöne Seele“, aber eine, die mit sich kämpft und um die richtige Entscheidung ringt, auch nicht absolut sicher ist, dass ihre Wahrhaftigkeit auch belohnt werden wird. Letztlich hängt alles von Thoas ab – aber der ist ganz offensichtlich ein Mann auf dem Weg auch hin zu wahrer Menschlichkeit. Am wichtigsten ist hier Vers 1986, der deutlich macht, dass Iphigenie zwar spontan handelt, aber auf der Basis langen positiven Wirkens, das ja auch erfolgreich ist, wie Arkas mehrfach betont (z.B. 120ff oder auch 1465ff).
  • Am Ende wird sie belohnt, wird die Wahrheit wirklich durch sie und Thoas verherrlicht, aber auch hier ist wichtig, dass Iphigenie sich nicht mit dem einfach „So geht“ (2151) begnügt, sondern die volle Menschlichkeit will, das herzliche und verbindende „Lebt wohl“ (2174).
  • Damit bietet Goethes „Iphigenie auf Tauris“ ein für eher ernst angelegte „Schauspiele“ dieser Art ungewöhnliches Happy End: Präsentiert wird ein „Schau-Stück“ der Humanität, also ein Bühnenspiel, das den Zuschauern die Ideale klassischer Ethik und vor allem der Selbstvervollkommnung zeigt – zuerst bei Iphigenie, dann aber auch bei Thoas, der den noch größeren Entwicklungssprung macht.

Verallgemeinerung der Lösung

  • Noch einmal zurück zu den Leitplanken der gestellten Aufgabe:
    • Diese Szene zeigt tatsächlich Iphigenie auf dem Höhepunkt ihrer Moralität, der Bereitschaft, das Ideal an die höchste Stelle zu setzen und seine umfassende Verwirklichung bzw. „Verherrlichung“ dem „Barbaren“ zu überlassen, der scheinbar weit davon entfernt ist, aber schon lange dem Einfluss des Guten, Schönen und Wahren ausgesetzt ist.
    • Für die Qualität des Stückes spricht, dass zumindest ansatzweise das volle Risiko deutlich wird, das Iphigenie dabei eingeht, und dass das sich andeutende Happy End zumindest motiviert ist.
    • Die Frage, ob Sprünge in die Wahrheit und die Menschlichkeit immer so belohnt werden, ist dann eine, die weit über das Stück und Goethe sowie die Klassik hinausgeht.
    • Zumindest kann der Weimarer Klassiker für sich in Anspruch nehmen, ähnlich wie Iphigenie für seine Ideale in seinen Stücken geworben zu haben. Der Rest ist dann Sache all derer, die nicht Barbaren im echten Sinne des Wortes bleiben wollen.

Grafische Darstellung der Zusammenhänge

Erläuterung des Schaubilds
  • Links finden sich die Vorarbeiten der Szenenanalyse, nämlich die Einleitung mit Themenangabe und die Klärung der dramatischen Ausgangssituation.
  • Es folgt im mittleren Teil die genauere Untersuchung der Veränderungen im Verlauf der Szene.
  • Rechts werden mögliche Schritte präsentiert, in denen die Frage der „schönen Seele“ im Hinblick auf diese Szene diskutiert werden kann.

Weitere Infos, Tipps und Materialien

Sammlung von Infos, Tipps und Materialien zu Goethes „Iphigenie auf Tauris“
https://www.einfach-gezeigt.de/iphigenie-themenseite

Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos