Klausur – Schluss von Roths Roman „Hiob“ (Mat164-S)

Worum es hier geht:

Wir präsentieren eine Klausuraufgabe, in der es auch um die Frage des Schlusses geht.

Klausur zu Roths Roman „Hiob“ – Interpretation des Schlusses

Aufgabenstellung:

  1. Analysieren Sie den Schlussabschnitt von „Und sie gelangten in eine Welt …“ bis „… und der Größe der Wunder“, indem Sie
    1. zunächst knapp die wichtigsten Momente der Voraussetzungen klären, (Faktor 3)
    2. dann die zentralen Textsignale zu Textaussagen (Intentionalität) bündeln (Faktor 12)
    3. und schließlich die Bedeutung dieser Schlusspassage für das Verständnis des gesamten Romans diskutieren. (Faktor 4)
  2. Erörtern Sie vor dem Hintergrund Ihrer Ergebnisse die These, der Roman hätte auch schon auf Seite 126, Zeile 11 beendet werden können. Was würde ein solch frühes Ende für das Verständnis des Romans bedeuten? (Faktor 7)
  3. Stellen Sie abschließend eine begründete These auf zur Bedeutung des Romans zwischen Märchen und Parabel. (Faktor 3)

 

Und sie gelangten in eine Welt, wo der weiche Sand gelb war, das weite Meer blau und alle Häuser weiß. Auf der Terrasse vor einem dieser Häuser, an einem kleinen, weißen Tischchen, saß Mendel Singer. Er schlürfte einen goldbraunen Tee. Auf seinen gebeugten Rücken schien die erste warme Sonne dieses Jahres. Die Amseln hüpften dicht an ihn heran. Ihre Schwestern flöteten indessen vor der Terrasse. Die Wellen des Meeres plätscherten mit sanftem, regelmäßigem Schlag an den Strand. Am blassblauen Himmel standen ein paar weiße Wölkchen. Unter diesem Himmel war es Mendel recht, zu glauben, dass Jonas sich einmal wieder einfinden würde und Mirjam heimkehren, »schöner als alle Frauen der Welt«, zitierte er im stillen. Er selbst, Mendel Singer, wird nach späten Jahren in den guten Tod eingehen, umringt von vielen Enkeln und »satt am Leben«, wie es im »Hiob« geschrieben stand. Er fühlte ein merkwürdiges und auch verbotenes Verlangen, die Mütze aus altem Seidenrips abzulegen und die Sonne auf seinen alten Schädel scheinen zu lassen. Und zum erstenmal in seinem Leben entblößte Mendel Singer aus freiem Willen sein Haupt, so wie er es nur im Amt getan hatte und im Bad. Die spärlichen, gekräuselten Härchen auf seinem kahlen Kopf bewegte ein Frühlingswind wie seltsame, zarte Pflanzen.

So grüßte Mendel Singer die Welt.

Und eine Möwe stieß wie ein silbernes Geschoss des Himmels unter das Zeltdach der Terrasse. Mendel beobachtete ihren jähen Flug und die schattenhafte, weiße Spur, die sie in der blauen Luft hinterließ.

Da sagte der Sohn: »Nächste Woche fahre ich nach San Franzisko. Auf der Rückkehr spielen wir noch zehn Tage in Chicago. Ich denke, Vater, dass wir in vier Wochen nach Europa fahren können!«

»Mirjam?«

»Heute noch werde ich sie sehen, mit Ärzten sprechen. Alles wird gut werden, Vater. Vielleicht nehmen wir sie mit. Vielleicht wird sie in Europa gesund!«

Sie kehrten ins Hotel zurück. Mendel ging ins Zimmer seines Sohnes. Er war müde.

»Leg dich auf das Sofa, schlaf ein wenig«, sagte der Sohn. »In zwei Stunden bin ich wieder hier!«

Mendel legte sich gehorsam. Er wusste, wohin sein Sohn ging. Zur Schwester ging er. Er war ein wunderbarer Mensch, der Segen ruhte auf ihm, gesund würde er Mirjam machen.

Mendel erblickte eine große Photographie in rostbraunem Rahmen auf dem kleinen Spiegeltisch. »Gib mir das Bild!« bat er.

Er betrachtete es lange. Er sah die junge, blonde Frau in einem hellen Kleid, hell wie der Tag, in einem Garten saß sie, durch den der Wind spazierenging und die Sträucher am Rande der Beete bewegte. Zwei Kinder, ein Mädchen und ein Knabe, standen neben einem kleinen, eselbespannten Wagen, wie sie in manchen Gärten als spielerisches Vehikel gebraucht werden.

»Gott segne sie!« sagte Mendel.

Der Sohn ging. Der Vater blieb auf dem Sofa, die Photographie legte er sachte neben sich. Sein müdes Auge schweifte durchs Zimmer zum Fenster. Von seinem tiefgelagerten Sofa aus konnte er einen vielgezackten, wolkenlosen Ausschnitt des Himmels sehn. Er nahm noch einmal das Bild vor. Da war seine Schwiegertochter, Menuchims Frau, da waren die Enkel, Menuchims Kinder. Betrachtete er das Mädchen genauer, glaubte er, ein Kinderbild Deborahs zu sehn. Tot war Deborah, mit fremden, jenseitigen Augen erlebte sie vielleicht das Wunder. Dankbar erinnerte sich Mendel an ihre junge Wärme, die er einst gekostet hatte, ihre roten Wangen, ihre halboffenen Augen, die im Dunkel der Liebesnächte geleuchtet hatten, schmale, lockende Lichter. Tote Deborah! Er stand auf, schob einen Sessel an das Sofa, stellte das Bild auf den Sessel und legte sich wieder hin. Während sie sich langsam schlossen, nahmen seine Augen die ganze blaue Heiterkeit des Himmels in den Schlaf hinüber und die Gesichter der neuen Kinder. Neben ihnen tauchten aus dem braunen Hintergrund des Porträts Jonas und Mirjam auf. Mendel schlief ein. Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder.