Lars Krüsand,
Über die Literatur – eine Rede an die Einsichtigen unter ihren Verächtern
Eine vorläufige Vorrede zur Vorrede in Dürrenmatts Theaterstück „Die Physiker“
Zunächst einmal geben wir zu: Die Überschrift ist weitgehend geklaut – und zwar von einem Theologen des frühen 19. Jahrhunderts namens Schleiermacher. Bei ihm ging es um die Religion und er wandte sich an die “Gebildeten unter ihren Verächtern” – das heißt: Er ging davon aus, dass die Religion zu seiner Zeit immer mehr in Schwierigkeiten geriet – bis hin zur Verachtung. Und bei denen wollte er für ein neues, besseres Verständnis der Religion werben.
Wir übertragen diesen Gedanken mal auf die Literatur. Wer sich auch nur ein bisschen im heutigen Deutschunterricht auskennt, weiß, wie sehr dort gestöhnt wird. Vor allem trifft es Gedichte, aber auch Romane oder Theaterstücke. Die erscheinen schwierig, erst mal fremd – und vor allem müssen sie interpretiert werden. Die Deutschlehrer können das dank ihres Studiums auf irgendeine geheimnisvolle Art und Weise – und weitergegeben wird das in seitenlangen Anleitungen, die man spätestens nach dem Abitur wieder vergisst.
Natürlich gibt es auch Schüler, die diese Probleme mit Literatur gar nicht haben, gerne lesen und in der Lage sind, das Beste daraus für sich herauszuholen.
Über die freuen wir uns – aber wenden tun wir uns an die anderen, an die mit den verschränkten Armen und dem mehr als skeptischen Blick, wenn die Lehrkraft die nächste Lektüre hochhält.
Die möchten wir einladen, auf eine andere Art und Weise das Beste aus der Zwangslektüre zu machen – indem man ihr nämlich eine Chance gibt.
Soviel Wohlwollen – soviel Bereitschaft zur Ein-sicht ist aber nur möglich, wenn man erst mal zornig sein darf. Nur: Es sollte ein produktiver Zorn sein, bei dem man nicht rechthaben will, sondern herausfinden, was das Stück Literatur einem zu sagen hat.
Wir probieren das selbst mal am Beispiel von Dürrenmatts Drama “Die Physiker” aus. Grundsätzlich halten wir den Mann für einen großen Dichter, sein “Besuch der alten Dame” ist ein grandioses Stück über die Manipulierbarkeit des Menschen.
Aber an den “Physikern” hat uns gleich bei der ersten Lektüre gestört, dass da reihenweise Krankenschwestern ermordet wurden – nur damit am Ende die Menschheit eine Chance hat, der Atombombe zu entrinnen. Der Preis mag okay sein, aber ein bisschen Mitgefühl für die Opfer wäre schon ganz schön.
Aber fangen wir vorne an: Der gute Dürrenmatt ist wohl zu sehr Erzähler, als dass er darauf verzichten könnte, den Leser am Anfang mit doch recht langen Beschreibungen und Überlegungen hinzuhalten. Beim “Besuch der alten Dame” sind es etwa 20 Zeilen, bei den “Physikern” ist er weit jenseits jeder Schmerzgrenze: 122 Zeilen lang nervt er die Leser mit einer Art Vorwort, wo man sich doch mit einer kurzen Angabe des Ortes, der Personen und der Situation begnügen kann – so wie andere Theaterdichter auch.
Aber wir wollen ja zu den “Einsichtigen unter den Verächtern” gehören, also unseren ersten Eindruck auf den Prüfstand stellen – allerdings wird es dabei keine falsche Nachsicht geben – das sind wir uns als Leser auch schuldig.
Es beginnt ganz harmlos, indem erst mal der Ort angegeben wird. Dann aber die “Nähere Umgebung” – ach lieber Friedrich: Was soll das? Kann man sie sehen? Ist sie wichtig für das Stück?
Dann merkt man, dass Dürrenmatt hier etwas ganz anderes im Sinn hat: Er muss anscheinend seiner Heimat Schweiz tüchtig einen mitgeben – die Details interessieren uns hier genausowenig, wie diese Details sich wahrscheinlich für das ganze Stück interessieren.
Das Schärfste kommt dann aber, wenn Dürrenmatt beiläufig feststellt: “Doch spielt das Örtliche eigentlich keine Rolle …” Man fühlt sich hier wie bei einem Einstellungstest, bei dem man 100 Fragen in 5 Minuten beantworten soll und hinterher erst mitbekommt, dass die 100. lautete: “Was sagen Sie dazu, dass wir von Ihnen nur die ersten fünf Fragen beantwortet haben wollten? Der Rest sollte nur testen, ob Sie sich bei einer Lösung erst mal einen Überblick verschaffen.”
Aber zurück zu Dürrenmatt: Da gibt es als nächstes ein bisschen was für Insider, indem von den drei Einheiten des Dramas gesprochen wird. Wir wären gerne selbst drauf gekommen.
Dann aber geht es “zur Sache”: Ausführlich wird die ganze Vorgeschichte erzählt und das Umfeld dieses Sanatoriums beleuchtet, wobei der Autor jede Gelegenheit nutzt, seine übergroße Belesenheit bzw. Bildung zu präsentieren. Wir als Leser denken nur: Mann, Dürrenmatt, komm zur Sache, zieh endlich den Vorhang weg und lass uns die Bühne sehen.
Und tatsächlich: Der Meister kommt endlich in seiner Vorrede auf die drei Physiker zu sprechen – und dann auch auf die toten Krankenschwestern. Von dem Mangel an Mitgefühl hatten wir schon gesprochen. Dürrenmatt reicht es, die kurz vorher Ermordete in “tragischer und definitiver Haltung” liegen zu lassen.
Statt Mitgefühl erneut endlose Beschreibungen – bis Dürrenmatt schließlich wirklich zur Sache kommt und die Leser informiert, was da gerade auf der Bühne abgeht.
Man sollte diesen zweieinhalb Seiten mal eine Kurzvariante gegenüberstellen und dann prüfen, wieviel von all dem anderen wirklich eine Funktion im Stück hat oder einfach nur Wort-Erguss ist – eines sicher großen, aber auch äußerst eigenwilligen Schriftstellers.
Formulieren wir also abschließend auf der Basis dieses Vorworts eine Deutungshypothese, die etwa so lauten könnte: “Dem Verfasser, der am Anfang auf etwas peinliche Weise das Stück dominiert, geht es mehr um sich und seinen Spaß als um einen echten Konflikt.”
Bei all dem, was hier steht, bitten wir zu beachten, dass es sich um einen Anfangsverdacht handelt, gewissermaßen die Voraussetzung, um vom Stück und seinem Dichter dann vielleicht doch zu besseren Einsichten geführt zu werden.