Wieso „rausbildern“?
- Viele Schüler haben Schwierigkeiten, den Inhalt eines Gedichtes so zu erfassen, dass sie es hinterher auch interpretieren können.
- Im folgenden probieren wir mal eine Methode aus, die wir letztens in einem Video vorgestellt haben.
Videolink - Es geht darum, beim Lesen des Gedichtes nicht nur irgendetwas anzustreichen, sondern die einzelnen Signale des Textes auch gleich in eine Art Schaubild zu verwandeln.
- Das muss nichts Kompliziertes sein. Es reicht völlig, wenn man die einzelnen Signalwörter probeweise in eine Beziehung zueinander setzt.
- Mithilfe dieser kleinen Schaubilder zu den einzelnen Strophen kann man dann auch sehr gut die Entwicklung im Gedicht erkennen. Dann fällt es auch leicht, hinterher die Aussage (n) des Gedichtes zu formulieren.
Wir zeigen das mal an der ersten Strophe
Es geht um das Gedicht „Angestellte“ von Kurt Tucholsky, das man zum Beispiel hier findet.
Wir zerlegen dabei die erste Strophe in Sinnabschnitte.
Auf jeden Drehsitz im Büro
da warten hundert Leute;
- Die ersten Signale sind „Drehsitz im Büro“ und „warten“ sowie „100 Leute.“
- Daraus kann man die folgenden beiden kurzen Schaubild-Elemente machen:
- jeder Drehsitz
- 100 Leute.
- Dann merkt man auch sofort, dass hier ein großes Missverhältnis vorliegt. Dementsprechend gering sind die Chancen der Leute, einen solchen Sitz zu bekommen. Es geht also offensichtlich um Arbeitslosigkeit und das Bemühen, aus ihr rauszukommen.
man nimmt, was kommt – nur irgendwo
und heute, heute, heute.
- Die nächsten Signale betreffen die Reaktion der Leute auf dieses Missverhältnis.
- “nimmt, was kommt“
- “heute, heute, heute“
- Man merkt hier die Ausweglosigkeit, die den Arbeitsuchenden keine Wahl lässt.
- Dazu kommt der zeitliche Druck. Sie können nicht warten, sie brauchen Job und Geld.
- Heutigen Schülern muss man wohl erklären, dass es zur Zeit des Gedichtes mit Arbeitslosenunterstützung u.ä. Nicht weit her war.
Drin schuften sie
wies liebe Vieh,
sie hörn vom Chef die Schritte.
Und murren sie, so höhnt er sie:
»Wenns Ihnen nicht passt – bitte!«
- Die nächsten Signale sind
- „schuften“ und der Vergleich mit „Vieh“
- dazu kommt „murren“
- Dem gegenüber steht „höhnt“
- und das verächtliche „bitte“, was eine mögliche Kündigung angeht..
- Wie wird also deutlich gemacht, wie es denen geht,
- die einen der wenigen Bürosessel ergattert haben
- und keine Chance haben, dagegen aufzubegehren.
- Bei den Arbeitgebern kommt noch Arroganz dazu. Rücksicht auf die Bedürfnisse der Leute müssen sie nicht nehmen
- Es verstärkt also die negative Sicht auf die Arbeitgeber.
- Außerdem kann man noch eine weitere aussagekräftige Beziehungslinie deutlich machen zwischen den Zahlen: Missverhältnis am Anfang und geringe Chance, seine Situation zu verbessern.
- Dann kann man noch eine erste Zusammenfassung versuchen. Auch das hilft, das Gedicht und seine Aussage zu verstehen. Die Zusammenfassung wäre eben das Missverhältnis der Zahlen und das Missverhältnis der Chancen, die beide Seiten haben. Das kann man dann zusammenfassen zu wenig Chancen und wenn, dann schlechte Arbeitsbedingungen.
„Rausbilder“-Schaubild der 1. Strophe
Bearbeitung der 2. Strophe
Mensch, duck dich. Muck dich nicht zu laut
Sie zahln dich nicht zum Spaße!
Halts Maul – sonst wirst du abgebaut,
dann liegst du auf der Straße.
Acht Stunden nur?
Was ist die Uhr?
Das ist bei uns so Sitte:
Mach bis um zehne Inventur . . .
»Wenns Ihnen nicht paßt – bitte!«
- Die zweite Strophe beginnt mit einer Art Anrede an die Arbeiter beziehungsweise Arbeitslosen. Deutlich wird die Notwendigkeit, die Arbeitsbedingungen zu akzeptieren.
- Dann wechselt das Gedicht direkt in die Perspektive der Arbeitgeber. Die schlechten Arbeitsbedingungen werden verharmlost. Dazu kommt noch einmal der Hinweis, dass man ja jederzeit gehen könnte.
- Interessant ist die Formulierung: „Sie zahln dich nicht zum Spaße“.
- Wenn man darüber nachdenkt, merkt man, dass daran etwas Richtiges ist, aber auch etwas Falsches.
- Richtig ist, dass die Arbeiter tatsächlich aus den Erlösen der Arbeit bezahlt werden.
- Was allerdings übersehen beziehungsweise bewusst ausgeklammert wird, ist das häufig vorhandene Missverhältnis zwischen dem Erlös aus der Arbeit und dem, was die Arbeiter davon bekommen.
„Rausbilder“-Schaubild der 2. Strophe
Bearbeitung der 3. Strophe
Durch eure Schuld.
Ihr habt euch nie
geeint und nie vereinigt.
- Die ersten drei Zeilen der dritten Strophen deuten dann in der Form der Kritik eine mögliche Verbesserung der Situation an.
- Die Chance dazu wird nicht bei den Arbeitgebern gesehen, sondern bei der mangelnden Selbstorganisation und Solidarität der Arbeiter.
- Hier könnte man eine Verbindungslinie ziehen zu dem Hohn der Arbeitgeber weiter oben.
- Denn das macht deutlich, dass die Arbeitgeber nach Meinung des Gedichtes nicht aus Notwendigkeit handeln, sondern aus Eigennutz.
Durch Jammern wird die Industrie
und Börse nicht gereinigt.
Doch tut ihr was,
dann wirds auch was.
- Die letzten Zeilen führen das doch noch näher aus.
- Noch einmal wird betont, dass Jammern nichts bringt.
- Dem gegenüber steht die angebliche Gewissheit, dass man durch entsprechende Aktivitäten auf Arbeitnehmerseite etwas erreichen kann.
Und ists soweit,
dann kommt die Zeit,
wo ihr mit heftigem Tritte
und ungeahnter Schnelligkeit
herauswerft eure Obrigkeit:
»Wenns Ihnen nicht passt –: bitte!«
- Die letzten sechs Zeilen gehen über das reine Sprechen und Machen hinaus.
- Offensichtlich versucht das Gedicht den Arbeitern auch als Ziel eine gewisse Genugtuung zu versprechen.
- Es wird nämlich geschrieben, dass man beim Erfolg der Selbsthilfemaßnahmen den Spieß gewissermaßen umdrehen kann: Dann hätte man die Genugtuung, die Arbeitgeber ggf. hinauswerfen, die die neue Situation nicht akzeptieren wollen.
- Es läuft also im wahrsten Sinn des Wortes auf eine Revolution hinaus, also eine Umkehrung der sozialen und indirekt auch politischen und rechtlichen Verhältnisse.
„Rausbilder“-Schaubild der 3. Strophe
Herausarbeitung der „Aussagen“ = Intention oder Intentionalität
Worauf läuft das Gedicht zu?
Das kann man gut erkennen, wenn man die Strophen-Schaubilder zusammenfasst:
Das Gedicht zeigt:
- Das Missverhältnis zwischen dem Angebot an Arbeitsplätzen und der Nachfrage,
- den damit verbundenen Druck, jeden Job anzunehmen
- und auch das Schuften und die Hinnahme von Arbeitszeit-Willkür,
- die Ansätze von „Murren“,
- die gleich mit Hinweis auf den Rausschmiss gekontert
- und noch mit Hohn verbunden werden.
- den Vorwurf der Untätigkeit und der mangelnden Solidarität durch das Lyrische Ich
- die angebliche einfache Möglichkeit der Umkehrung der Verhältnisse
- mit entsprechender Genugtuung
Kritik des Gedichtes
- Wie realistisch die Kritik und die angeblich einfache Lösung durch Solidarität und dann Umkehrung der Verhältnisse, bleibt offen. Die vorangegangenen Revolution in Deutschland haben gezeigt, dass sich dabei kein kompletter Umsturz ergeben hat.
- 1848 brachte wenig, weil am Ende das Bürgertum zum Schutz seiner eigenen Interessen bereit war, eher mit dem König zusammenzuarbeiten und sich später mit der nationalen Einheit und gewissen Rechten zufriedenzugeben. Die Arbeiter blieben außen vor.
- In der parallelen Revolution in Frankreich wurde sogar das Militär gegen die Arbeiter eingesetzt.
- 1918/19 gab es dann einen größeren Druck der unteren Schichten. Letztlich aber hat ein Teil der Arbeiterbewegung sich dann doch gegen eine komplette Revolution ausgesprochen und sogar gemeinsame Sache gemacht mit den alten Mächten.
- Es gab aber zumindest einigen Fortschritt für die Arbeiter. Bei der Würdigung dieser Revolution darf man allerdings nicht vergessen, dass die siegreichen Alliierten es wohl kaum zugelassen hätten, dass Deutschland aus ihrer Sicht in Richtung Kommunismus abdriftet. Dazu war die Entwicklung in Russland nach der Machtübernahme der Bolschewiki auch nicht attraktiv, schreckte viele Menschen in Deutschland ab.