Lars Krüsand zur Frage: Wie aktuell ist Lessings Drama „Nathan der Weise“ heute (noch)? Mat1284

Lars Krüsand,
Lessings „Nathan der Weise“ – und wir heute
Überlegungen zur Aktualität eines Dramas der Aufklärung
  1. Damit wir uns nicht missverstehen: Die „Ringparabel“ als Kernstück von Lessings Drama „Nathan der Weise“ enthält eine wunderbare Idee, weil sie eine einfache Lösung für die mächtigsten Konflikte unserer Zeit zu beinhalten scheint.
  2. Es geht um die endgültige und friedliche Beantwortung aller Wahrheitsfragen durch die Realität. Was sich positiv auswirkt, Gutes bewirkt, das ist der Kern der Ringparabel, das ist auch echt, wahr.
  3. Das scheint vor allem eine glückliche Lösung für die religiösen Konflikte zu sein, die am Ende des 20. Jahrhunderts wieder virulent geworden sind.
  4. Während das Christentum in seinen Kerngebieten und denen, die es sich erobert hatte, immer schwächer geworden ist, sich immer mehr mit dem allgemeinen Zeitgeist verbunden hat und dementsprechend auch offen ist für andere Auffassungen,
  5. ist mit dem Islam in Europa eine Religion immer stärker geworden, die sich selbst noch ernst nimmt – als eine Wahrheit jenseits aller Vernunft.
  6. Ob ein gläubiger Muslim sich wirklich auf die Formel einlassen kann, einfach „seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe“ nachzueifern und sich zu bemühen, die „Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag /  Zu legen!“, ja ihr „mit Sanftmut, / Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, / Mit innigster Ergebenheit in Gott“ zu Hilfe zu kommen? Das würde ja bedeuten, sein Glaubensbekenntnis gewissermaßen an die zweite Stelle zu setzen – und sich in eine Art Wohltätigkeitswettkampf mit anderen Religionen zu begeben.
  7. Wir kennen uns zu wenig mit dem Islam aus, um das für die Muslime entscheiden zu können. Aber was wir von ihnen hören, das ist ein ganz anderes Glaubensbekenntnis als das, was der aufgeklärte Vernunftpragmatiker in seinem Drama präsentiert.
  8. Und was für die Religionen gilt, das gilt auch für alle anderen tiefgreifenden Überzeugungen: Kaum eine lässt sich auf den scheinbar so vernünftigen Grundsatz ein: „Was Gutes bewirkt, ist gut und sollte gültig sein.“
  9. Bei all dem muss man wissen, dass die Aufklärer der Lessing-Zeit Angehörige einer ganz bestimmten Schicht waren, die sich ein Gedankenkonstrukt erstellt haben, dem sie selbst zum Teil nur wenig folgten.
  10. Das ändert nichts daran, dass die Aufklärung wunderbare Ideen in die Welt gesetzt hat, aber sie haben weder den Imperialismus noch die Weltkriege, noch millionenfachen Massenmord verhindern können. Und heute ist es gerade der Multikulturalismus, der es, wenn man ihn ernst nimmt, eigentlich verhindern müsste, dass die spezifischen Ideen des Westens, wozu auch Lessing und seine Ringparabel gehören, so ohne weiteres als die normative Basis für das Zusammenleben aller Menschen auf dieser Erde verwendet werden können.
  11. Was die Aktualität Lessings und seiner Nathan-Geschichte angeht: Es ist eine schöne Idee, nicht mehr nach der Wahrheit zu fragen, sondern auf das zu setzen, was Gutes bewirkt. Nur, was ist das Gute heute? Wie viele gibt es, die sich oder andere unterdrückt sehen und die das Gutsein dann auf eine Zeit verschieben, wenn sich in ihrem Sinne Gerechtigkeit hergestellt hat. Nur, was ist die !!! Gerechtigkeit? Und so kann man immer weiter fragen – und vor diesem Hintergrund erscheint die Forderung des Richters der Ringparabel doch der sehr viel komplexeren Wirklichkeit nicht ganz gerecht zu werden.
  12. Außerdem soll es Marie von Ebner-Eschenbach gewesen sein, die gesagt hat: „„Der Klügere gibt nach! Eine traurige Wahrheit, sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit.““
    https://www.zitate-online.de/literaturzitate/allgemein/2071/der-kluegere-gibt-nach-eine-traurige-wahrheit.html
    Und das heißt doch nichts anderes, als dass man manchmal auch für das Richtige, das Wahre kämpfen muss, es setzt sich eben nicht in einem edlen Wettstreit der Wohlmeinenden durch.
Wenn man alles in wenigen Punkten zusammenfassen will:
  • Es wäre schön, wenn sich alle Menschen darauf verständigen könnten, im Sinne des Richterspruchs nett zu einander zu sein und den am meisten zu loben, der am meisten Positives hervorbringt.
  • Lessing hat als Aufklärer aber nicht die geringste Ahnung von der Unbedingtheit vieler Religionen, die sich eben ernst nehmen und nicht einfach an die Regeln der Aufklärung halten. Wenn eine Religion noch die Herrschaft ihres Gottes auf der Erde durchsetzen will, dann kann sie keine Ringparabel daran hindern.
  • Außerdem ist Lessings Ringparabel völlig realitätsfern, weil sie die realen Interessenkonflikte der Menschen untereinander nicht ernst nimmt. Schön vor langer Zeit hat wohl Marie von Ebner-Eschenbach den Gedanken formuliert: „Der Klügere gibt nach – und das begründet die Weltherrschaft der Dummheit.“
    https://www.zitate-online.de/literaturzitate/allgemein/2071/der-kluegere-gibt-nach-eine-traurige-wahrheit.html

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