Worum es hier geht:
Else Lasker-Schüler, „Ein Lied der Liebe“
Uns geht es hier nicht um eine komplette Interpretation. Vielmehr wollen wir zeigen, wie man sich Stück um Stück an ein möglichst gutes Verständnis des Textes heranarbeiten kann.
Dabei geht es uns auch nicht um die Ebene der Fachleute, der ausgebildeten Germanisten. Wir möchten vielmehr Schülern helfen, mit solch einem Gedicht klarzukommen – und vielleicht sogar etwas Freude dabei zu empfinden.
Vielleicht ergeben sich auch Ideen, wie man das Gedicht verändern oder weiterschreiben könnte, um es an eine andere Situation anzupassen.
Else Lasker-Schüler
Ein Lied der Liebe
Seit du nicht da bist,
Ist die Stadt dunkel.
Ausgangspunkt ist die Beschreibung einer Situation und der Folgen für das Lyrische Ich. Es geht um die Trennung von dem Geliebten (vgl. den Titel) und das Gefühl, dass damit das Licht aus dem Leben verschwunden ist.
Ich sammle die Schatten
Der Palmen auf,
Darunter du wandeltest.
Hier geht es um den Umgang des Lyrischen Ichs mit dem Verlust. Sogar die geringsten Überbleibsel des Geliebten sind so wertvoll, dass man sie sammelt.
Immer muss ich eine Melodie summen,
Die hängt lächelnd an den Ästen.
Mit dem Geliebten verbinden sich auch eine ganze besondere „Melodie“ (vgl. auch hier den Titel). Die ist noch vorhanden in der Umgebung und erfreut das Lyrische Ich in der Erinnerung.
Du liebst mich wieder –
Wem soll ich mein Entzücken sagen?
Das Lyrische Ich geht fest davon aus, dass es auch wiedergeliebt wird – vor Freude weiß es gar nicht, wem es das mitteilen kann.
Einer Waise oder einem Hochzeitler,
Der im Widerhall das Glück hört.
Hier wird ein ganz extremer Bogen möglicher Adressaten des Hochzeitsliedes aufgespannt – von der „Waise“, die also gerade keine Eltern mehr hat mit der entsprechenden Liebe, bis hin zum „Hochzeitler“, also einem Menschen, der kurz vor dem Glück steht.
Ich weiß immer,
Wann du an mich denkst –
Zu dieser Liebe gehört auch eine enge, fast schon telepathische Verbundenheit.
Dann wird mein Herz ein Kind
Und schreit.
Hier merkt man, wie diese Liebesempfindung, diese Verbundenheit sich von allem entfernt, was Erwachsene für sinnvoll und verständig halten. Man schreit einfach nur – wohl vor Glück.
An jedem Tor der Straße
Verweile ich und träume;
Das Lyrische Ich denkt immer nur an seine Liebe, wenn es unterwegs ist, und verliert dann jeden Bezug zur nicht so schönen Realität, kann sich stattdessen auf das Schöne der Liebe und der Gemeinsamkeit konzentrieren.
Ich helfe der Sonne deine Schönheit malen
An allen Wänden der Häuser.
Das geht so weit, dass sogar die Sonne eingespannt wird, um die Schönheit des Geliebten zu malen.
Aber ich magere
An deinem Bilde.
Hier kommt nun ein Einbruch, die Traumrealität ist eben doch nicht so schön wie die Wirklichkeit. Es ist wohl die Sehnsucht, das Verlangen, das das Lyrische Ich schlank macht – man kann sich das fast bildlich vorstellen.
Um schlanke Säulen schlinge ich mich
Bis sie schwanken.
Das Lyrische Ich muss das Übermaß der Gefühle in Aktivitäten umsetzen – wenn der Geliebte nicht da ist, werden eben Säulen umschlungen – und zwar so stark, wie es nur irgend möglich ist.
Überall steht Wildedel
Die Blüten unseres Blutes.
Hier weiß man nicht so genau, was mit „Wildedel“ gemeint ist – es scheint eine Erfindung für eine Pflanze zu sein, die ein Sinnbild ihrer Liebe ist.
Wir tauchen in heilige Moose,
Die aus der Wolle goldener Lämmer sind.
Hier fühlt sich das Lyrische Ich vereinigt mit dem Geliebten und stellt sich einfach eine Situation ein, die einmalig schön ist – und einfach ihren aktuellen Vorstellungen entspricht.
Wenn doch ein Tiger
Seinen Leib streckte
Die Wünsche gehen weiter – bis hin zu einem mächtigen Raubtier, das sich – katzentypisch – streckt und dabei die Entfernung überbrücken kann, die die die Liebenden trennt – siehe die nächste Versgruppe.
Über die Ferne, die uns trennt,
Wie zu einem nahen Stern.
Diese Entfernung ist einerseits astronomisch weit, aber eben auch nah.
Auf meinem Angesicht
Liegt früh dein Hauch.
Am Ende zieht sich das Lyrische Ich in der Liebesvorstellung wieder ganz zurück, scheint in den Spiegel zu sehen und hat dabei das Gefühl, dass ein Hauch des Geliebten auf dem Gesicht liegt.
Das Gedicht zeigt (Intention):
- Auf der einen Seite die Einsamkeit und die Traurigkeit des Lyrischen Ichs, dessen Geliebte(r) nicht mehr da ist,
- auf der anderen Seite auch die vielfältigen Bemühungen, die Verbindung aufrecht zu erhalten, was auch in der Fantasie gelingt.
- … das Ausmaß des Glücks dieser Liebe, das sogar noch in der Fantasie und im Traum gegeben ist
- aber im zweiten Teil auch die Brüche, die sich ergeben, wenn es eben nur die Anstrengung der Fantasie ist,
- … am Ende die Kombination von erträumtem Glück und dem extremstmöglich formulierten Wunsch, wieder zusammenzukommen.
- … am Ende eine Art beruhigtes Minimum, nachdem das Lyrische Ich in diesem Lied seine ganzen Gefühle hinausgeschrien (so möchte man sagen) hat.
- … Züge des Expressionismus in der extremen und sehr originellen Darstellung der Gefühle.