Wer sich für Sprache interessiert, Themen wie „Spracherwerb“, „Sprachentstehung“ und das Verhältnis von „Sprache und Denken“, der kommt nach wie vor um Dieter E. Zimmers Buch „So kommt der Mensch zur Sprache. Über Spracherwerb, Sprachentstehung und Sprache & Denken“ nicht herum. Dort wird nämlich auf eine sehr anschauliche, faktenreiche und zugleich erstaunlich verständliche Weise über eins der schwierigsten Themen gesprochen. Schließlich haben wir nur Sprache zur Verfügung, um uns mit Sprache zu beschäftigen.
Umso schöner, wenn das auf so beeindruckende Weise gelingt, dass wichtigte Textauszüge immer noch in den Deutschbüchern der Oberstufe auftauchen.
Wir stellen das Werk im Folgenden so vor, dass man sich leicht in ihm zurechtfindet und gleich zu besonders interessanten Stellen vorstoßen kann.
Basis ist die 2. Auflage, eine aktualisierte Neuausgabe des Heyne-Verlags aus dem Jahre 2008, ISBN 978-3-453-60065-2.
Besonders interessant dürfte die Vorstellung der verschiedenen Spracherwerbstheorien durch Zimmer sein – unsere Hinweise dazu finden sich weiter unten.
Einfach suchen nach „#Spracherwerbstheorien“
Zu den Einzelheiten geht es weiter unten.
Das Schaubild ist vor allem als Merkhilfe gedacht und setzt die folgenden Akzente:Das Schaubild stellt eine erste, einfache Sicht auf die verschiedenen Theorien dar.
Angeordnet ist es so, dass vier Seiten eine Rolle spielen: Links eine Theorie, die das Innere des Kindes weitgehend ausblendet, rechts dagegen die, die den inneren Voraussetzungen eine entscheidende Rolle zuschreibt.
Oben haben wir dann die kognitiven Aspekte, unten die sozialen, die man noch um kulturelle ergänzen könnte.
Was die linke Seite angeht: Der Behaviorismus ist weitgehend out, allerdings sind die Impuls- und Verstärkungselemente natürlich durchaus dem Spracherwerb förderlich.
Was die rechte Seite angeht: Chomskys Nativismus ist das völlige Gegenmodell, weil es eben von einer genetischen Anlage ausgeht, dabei aber wohl etwas übertreibt. Die Sprachen sind zwar ähnlich, aber für eine gemeinsame genetische Grundlage der Sprachen zu unterschiedlich.
Der Interaktionismus (unten im Bild) geht eigentlich genauso auf die Impulse ein, die dem Kind helfen, die Sprache auszuprägen, allerdings geht es hier nicht mehr um Reiz-Reaktions-Modelle, sondern um eine stärkere Gewichtung der Bedeutung des sozialen Umfelds, in dem der Spracherwerb stattfindet. Letztlich handelt es sich um keine wirkliche Spracherwerbstheorie, weil der Interaktionismus sich nur auf möglichst optimale Kommunikation und damit Unterstützung konzentriert. Was da beim Kind schon sein muss, wird ausgeblendet, aber nicht wie beim Behaviorismus negiert.
Das kleine M im Schaubild steht übrigens für die Mutter – die galt hier zunächst als das entscheidende Medium der Sprachvermittlung.
Zum oberen Teil des Bildes: Piagets Kognitivismus geht wie Chomsky von der Notwendigkeit genetischer Voraussetzungen aus, allerdings macht er die Sprache zu einem Teil der allgemeinen intellektuellen Entwicklung, sie bekommt hier keine Sonderrolle zugesprochen.
Übersicht über den Inhalt
S. 07ff: „Wie kommt der Mensch zur Sprache?“
S. 12ff: „Die Sprache, die den Kindern zuwächst“
S. 98: „Der lange Weg zum Satz“
S. 123ff: „Die Grammatik-Erfinder“
S. 145ff: „Links und rechts“
S. 152ff: „Die sprechenden Affen“
S. 165ff: „Wiedersehen mit Whorf — Sprache & Denken“
S. 238ff: „Die Herkunft der Sprache“
ANHANG
Nachbemerkung 270
Bibliografie 272
Register 284
S. 12ff: „Wie kommt der Mensch zur Sprache?“
Im Folgenden stellen wir einzelne „Lesefrüchte“ vor:
S. 7/8: Vorstellung der beiden Experimente mit neugeborenen Kindern in der Geschichte, in denen versucht wurde, herauszubekommen, welche Sprache sich gewissermaßen von selbst ergibt – ohne Einwirkung anderer Sprecher.
Der ägyptische König Psammetich I. – zu finden bei Herodot
der Stauferkaiser Friedrich II., überliefert von Salimbembe
S. 8/9: Herder und seine „mähmäh“-Theorie
9/10: Liste von allen möglichen Theorien – ohne jede sachliche Basis und Überzeugungskraft, was 1866 dazu führte, dass die Pariser Sprachgesellschaft weitere Spekulationen zu diesem Thema in ihrem Zuständigkeitsbereich verbot
Unterscheidung zwischen „Glottogenese“ oder auch „Phylogenese“: Entstehung von Sprache ganz allgemein und
Vorgang des individuellen Spracherwerbs = „Ontogenese“
S. 10/11: Kurzer Überblick über die Geschichte der Forschung mit Hinweis, dass seit den 50er Jahren sich einiges getan hat
S. 12ff: „Die Sprache, die den Kindern zuwächst“
Schon die Kapitelüberschrift ist interessant, weil sie in einem Bild deutlich macht, wie man am besten den Spracherwerb verstehen kann – nämlich als einen Vorgang, der wie beim körperlichen Wachstum – auf genetischen Anlagen beruht, dann aber im Kontext des Lebens entfaltet wird.
S. 30/31: Interessante Zahlen zur Frage, wie groß ist der Wortschatz des Deutschen eigentlich? Dabei wird ausführlich differenziert: Vom Gesamtwortschatz im damaligen Brockhaus-Wahrig etwas über 200.000 Wörtern bis hin zu gebildeten Menschen, die in ihrer Sprache knapp 100.000 Wörter verwenden (können). Was den aktiven Wortschatz angeht, so verfügen Erwachsene über 8.000 bis 16.000 Wörter. Bei Luther hat man etwa 12.000 Wörter gezählt. Damit hat man schon mal einen ganz guten Rahmen. Interessant fanden wir den Hinweis, dass die Gesamtzahl der Wörter im Deutschen schwer bestimmen kann, weil es auch viele „Augenblickskomposita“ gibt.
S. 85ff: Vier Erklärungsansätze für den kindlichen Spracherwerb
#Spracherwerbstheorien
S. 85ff: „Der Behaviorismus“ (Theorie, die vom Verhalten ausgeht: Imitation und Verstärkung)
(S. 85) Keine speziellen genetischen Voraussetzungen außer einem „universalen Lernmechanismus“
„… alles wird durch Lernen erworben“.
Das geschieht durch Imitation dessen, was von den Erwachsenen kommt.
(S. 86) Verstärkt durch Belohnungen bzw. eigene Erfolgserlebnisse
Extremste Variante des Behaviorismus: Häufigkeit der einzelnen Wörter spielt eine große Rolle.
Insgesamt sehr fragwürdig, bsd. der letzte Punkt: Das Kind „lernt augenscheinlich überhaupt nicht Einzelfälle von Sprachanwendung. Es entnimmt der Tiefe der Sprache Regeln (oder kennt diese schon vor jeder Bekanntschaft mit einer bestimmten Sprache), die es anwendet, um neue, nie da gewesene Sätze zu bilden.“
Zentrales Problem des Behaviorismus: „Offenheit und Kreativität der Sprache“
Kinder reagieren zudem z.T. nicht oder sogar negativ auf Belehrungen
(S. 87) Außerdem müssten bei einem allgemeinen Lernmechanismus Menschen besser nach Hause finden und Tauben so etwas wie menschliche Sprache entwickeln.
Hinweis auf die Bedeutung der Kritik von Chomsky aus dem Jahre 1959 -> Ende des Behaviorismus als überzeugende Spracherwerbstheorie, wenn auch grundsätzlich Imitation und Verstärkung beim Lernen natürlich eine Rolle spielen.
S. 87: „Der Interaktionismus“ (Theorie die die lernstandsgerechte Kommunikation mit der Mutter für bsd. wichtig hält)
Ausgangspunkt: Unterschiede zwischen der Erwachsenensprache und der Sprache, in der Erwachsene mit Kindern sprechen)
Reduzierung von Komplexität entsprechend dem Stand der kindlichen Sprachentwicklung
bsd. Bedeutung der Interaktion von Mutter und Kind
(hier stellt sich natürlich die Frage, ob hier für Mutter auch Vater stehen könnte, wenn der sich primär um die Betreuung des Kindes kümmert)
Als entscheidendes Problem wird hervorgehoben, dass man das „experimentum crucis“ nicht machen könne, also ein Experiment, bei dem man dem Kind diese Interaktion verweigert und damit möglicherweise bleibende Schäden verursacht – man denke an das entsprechende Experiment des Stauferkaisers Friedrich II.
https://www.wissen.de/welche-sprachexperimente-machte-friedrich-ii-mit-kindern
S. 88: Zimmer verweist aber auf ein Experiment, bei dem ein Kind ganz wenig Input von der Mutter kam und dennoch seine Muttersprache lernte.
Einwand: Auch eine vereinfachte Sprache der Mutter ist immer noch zu komplex, um ohne Voraussetzungen beim Kind gelernt werden zu können.
Einwand: Eigentlich keine Spracherwerbstheorie, sondern eher eine Beschreibung von günstigen Rahmenbedingungen.
„Der Nativismus“ (Theorie von einer nur dem Menschen eigenen genetischen Anlage)
Gegenteil zum Empirismus, also der Vorstellung Spracherwerb funktioniere auf der Basis gemachter Erfahrungen, komme also von außen
S. 89: Es gehe zwar nicht ohne Input – siehe das Experiment Friedrichs II., aber der Output sei regelmäßig größer als der Input.
Außerdem sei der Input viel zu verwirrend, um allein daraus was machen zu können (siehe den Hinweis zur zu komplexen Sprache der Mutter weiter oben).
Grundregeln müssten also angeboren sein.
Der wichtigste Vertreter, Noam Chomsky, geht sogar von einem eigenen Sprachorgan des Menschen aus. Dafür spricht, dass es tatsächlich im Gehirn einen speziellen Bereich gibt, was bei Problemen mit diesem Bereich deutlich wird.
Chomskys Plädoyer für eine Sonderstellung des Menschen mit diesem Organ: Cartesianismus, weil der berühmte Philosoph Descartes (gestorben 1650) Tiere für „geist- und seelenlose Automaten“ gehalten habe.
S. 90: Hinweis auf Einseitigkeiten bei Chomsky, der vor allem einen Unterschied in den sog. „rekursiven“ syntaktischen Regeln sieht: „Die Frau mit dem Buch – auf der Bank – in dem Park“: Hier wird die gleiche Regel zu einer Kette mit beliebiger Länge gemacht.
S. 91: Hinweis, dass auch in der Kindersprache diese Fähigkeit noch nicht ausgebildet ist. Menschenaffen verfügen also über eine Vorstufe der menschlichen Sprache.
Abgelehnt wird auch Chomskys These, „die menschliche Sprache sei das Produkt einer einzigen Gen-Mutation“ – denn dafür sei sie zu komplex.
Insgesamt ist Chomskys Theorie für Zimmer zu sehr Philosophie und kümmert sich mehr um formale Logik als um psychologische und neurophysiologische Aspekte.
Positiv wird gesehen, dass Chomsky auf besondere genetische Anlagen verwiesen hat. Der Streit geht eher darüber, wie sehr die bereits ausdifferenziert sind.
Gegen ein weitgehend ausgebildetes Sprachorgan spricht, dass es keine Sprachmutationen gibt – und die müsste es geben, wenn mehrere Gene beteiligt sind.
Dagegen spricht auch die Verschiedenartigkeit der menschlichen Sprachen und die Möglichkeit eines weitgehenden Sprachwandels – bis tief ins System hinein.
Allerdings sind die Sprachen auch nicht so grundsätzlich verschieden, dass nicht doch eine gemeinsame Basis da sein sollte.
„Der Kognitivismus, auch Konstruktivismus genannt“ (Theorie die sich vor allem mit dem Zusammenhang zwischen Entwicklung des Denkvermögens und der sprachlichen Fähigkeiten beschäftigt)
S. 94: sehr stark mit der Person Jean Piagets verbunden
sieht enge Verbindung zwischen sprachlicher und allgemein geistiger Entwicklung
Spracherwerb ist dann eine Variante der allgemeinen Entwicklung in diesem Bereich, Ablehnung eines speziellen Sprachorgans, es gibt eher ein allgemeines geistiges Organ.
S. 95: Auch genetische Voraussetzungen nötig, aber keine speziell sprachlichen
Stufe 1: „Dingkonstanz“: Ein Ding bleibt ein Ding, auch wenn es nicht da ist – dann erst lohnt es sich, es mit einem Begriff zu verbinden
Stufe 2: „Symbolbewusstsein“: Ein Bauklotz kann dann zum symbolischen Stellvertreter für ein Auto werden. Dann können Begriffe auch für ganz verschiedene Varianten der Begriffs-Klasse steht. Ein Auto bleibt ein Auto, auch wenn es sich um einen Sportwagen handelt und nicht um einen Familienkombi.
Stufe 3: „Konzeptbewusstsein“: Das Kind kann mit Präpositionen arbeiten, die ja nicht für Dinge stehen, sondern für Verhältnisse.
Stufe 4a: „Erhaltungsbegriffe“: Das Kind weiß, dass es dasselbe Wasser ist, das aus einem Glas in einen Schlauch geschüttet wird und am Ende als Strahl herauskommt.
Stufe 4b: Fähigkeit zur Umstellung von Sätzen: Die Bedeutung bleibt gleich.
S. 96: Die Frage bleibt für Zimmer, ob sich Sprache komplett aus der allgemeinen geistigen Entwicklung ableiten lässt: „Ist Sprache also doch in irgendeinem Sinne autonom?“
Zimmers Position:
Er glaubt, dass in allen Positionen etwas Richtiges steckt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß.
Ablehnung der „Idee einer genetisch vorbestimmten Grammatik“, weil dafür die Sprachen zu unterschiedlich sind
Für Zusammenhang zwischen allgemeiner geistiger und sprachlicher Entwicklung
Syntax wird eher gelernt als nur auf der Basis von Erbanlage ausgebildet.
Aber es gibt für Zimmer einen Mechanismus, der dafür sorgt, dass die Sprachen nicht völlig verschieden sind.
kein Syntax-Gen, sondern „der Umstand, dass wir alle eben unweigerlich denken wie Menschen“.
Das erinnert an Kants „Kritik der reinen Vernunft“, die davon ausgeht, dass unser Gehirn uns Ordnungsstrukturen wie Raum, Zeit und Folge vorgibt.
Wir setzen das hier zu gegebener Zeit fort.