Zwei Kennzeichen der Epik (erzählende Hauptgattung der Literatur)
- Wenn man von einem erzählenden Text spricht, ist damit nicht jeder Text gemeint, in dem erzählt wird. Vielmehr geht es um eine der drei Hauptgattungen der Literatur, also um einen „fiktionalen“, einen künstlerisch gestalteten Text, der der Fantasie eines Autors entsprungen ist.
- Entscheidend bei einem solchen ausgedachten Text ist der „Erzähler“ (in der Praxis kann es natürlich auch eine Erzählerin sein, wir verwenden „Erzähler“ hier einfach als Fachbegriff). Wir halten uns dabei an die Praxis des Englischen: Dort wird auch „Die Autorin ist eine begabte Erzählerin“ übersetzt mit „The author is a talented narrator“.
- Der Erzähler ist eine Kunstfigur des Autors. Natürlich kann man auch sagen: Der Autor versteckt sich hinter einem Erzähler – aber dieses „Verstecken“ als fantasievolles Spiel gehört eben zur Literatur.
- Für eine genauere Untersuchung der Erzähltechnik ist dann entscheidend, wie dieser Erzähler erzählt und welche Haltung er gegenüber dem Erzählten einnimmt.
- Zu unterscheiden wäre dann noch zwischen einem Erzähler, der ganz von außen etwas erzählt, und einem Erzähler, der selbst im Geschehen steckt.
Beispiel: Heinrich von Kleist, „Michael Kohlhaas“ (1808/1810)
An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. – Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. Er besaß in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen führt, einen Meierhof, auf welchem er sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte; die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; kurz, die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.
Auswertung:
- Der Erzähler berichtet hier aus einem großen Abstand über ein früheres Geschehen (das natürlich genauso fiktional, also ausgedacht, ist wie er selbst), kann also nicht selbst in der Geschichte eine Rolle spielen.
- Wohl aber nimmt er Anteil daran – und zwar auf zwei unterschiedliche Weisen:
- „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“
Hier präsentiert er ein sogenanntes „Sachurteil“, d.h. eine Einschätzung, die man begründen kann und deshalb auch muss. - „die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder“
Hier präsentiert der Erzähler seine Erklärung des ungeheuren Vorgangs, den er gleich erzählen wird. Wir erfahren also, wie er selbst darüber denkt und sind gespannt, ob wir dem beim Lesen zustimmen können.
- „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“
- Außerdem zeigt der Erzähler sich gleich am Anfang als jemand, der alles unter Kontrolle hat – auch die Lenkung des Lesers, den er von vornherein in eine bestimmte Erwartungshaltung hineinlenkt. Später werden wir genauer auf dieses besondere „auktoriale“ Erzählen eingehen.
Was wir uns merken sollten:
- Erzählende Literatur = epische Literatur, Hauptgattung Epik neben Lyrik und Dramatik
- Literatur ist immer fiktional, d.h. das literarische Erzählen hat zwar Ähnlichkeiten mit dem normalen Erzählen, es präsentiert aber Ausgedachtes.
- Der Erzähler ist eine Kunstfigur des Autors und darf deshalb nicht mit ihm gleichgesetzt werden.
- Der Erzähler kann Teil des Geschehens sein, aber auch außerhalb stehen.
- Wenn der Erzähler zum Beispiel Kommentare abgibt, sprechen wir von einem „auktorialen“ Erzähler.
Weiterführende Hinweise:
Eine alphabetische Übersicht über unsere Infos und Materialien ist hier zu finden:
Unser Stichwortverzeichnis
Youtube-Playlist zum Thema:
Playlist: Videos zum Thema „Erzähltechnik“