Leserbriefvorlage: Brauchen wir ein Recht auf Selbsterklärung (Mat207)

Worum es hier geht:

Immer wieder passiert es, dass jemand etwas von sich gibt, was er kurz darauf bereut. Hier taucht die Frage auf, ob es nicht ein „Recht auf Selbsterklärung“ geben sollte, bei dem jemand deutlich macht, was er wirklich sagen wollte und wo er vielleicht auch missverstanden worden ist. Das würde auch dem Trend zur Skandalisierung von vermeintlichen oder realen Fehlgriffen entgegenwirken.

Textvorlage

(Klarfurter Nachrichten, 30.03.2016)

Im Rahmen des fächerübergreifenden Unterrichts war diesmal Prof. Norbert Zweischer am Klarfurter Gymnasium zu Gast – ein ehemaliger Schüler der Schule, der inzwischen an der Fachhochschule von Cunstadt zuständig ist für die Lehrerausbildung im Fach Praktische Philosophie.

Aus aktuellem Anlass ging der Redner aus von einem aktuellen Fall, in dem ein TV-Moderator den viel zu frühen Tod eines Sängers in einem Tweet sinngemäß mit den Worten kommentierte, er habe jetzt zwei Konzertkarten zum halben Preis abzugeben. Dabei ging es Prof. Zweischer nicht um die Frage des Geschmacks, bei der sich wohl alle einig seien, dass man so nicht mit dem Tod eines Menschen und den Gefühlen der Trauernden umgehen dürfe. Vielmehr gehe es um den Umgang mit einem solchen Missgriff. Schon seien berufliche Konsequenzen für den Verfasser der Kurznachricht gefordert worden. Dieser habe sich übrigens anschließend mit dem Hinweis entschuldigt, jeder trauere eben auf seine Weise.

Die Schüler-Reaktion zwischen Irritation, Fassungslosigkeit und Empörung nahm der Redner zum Anlass, ein Recht auf „Selbsterklärung“ im Umgang miteinander zu fordern. Es solle nicht gleich das soziale Fallbeil über jeden niedergehen, der sich anders verhalte, als man es für angemessen hält. Vielmehr sollte in jedem Einzelfall geprüft werden, wie jemand etwas gemeint habe. Es müsse im Rahmen der grundgesetzlich gesicherten Meinungsfreiheit auch ein Recht geben, sich genauer zu äußern, wenn etwas als kritikwürdig empfunden werde. Vielleicht wollte in diesem Falle der Betreffende gar nicht Trauernde verletzen, sondern nur – fast schon wie ein Künstler – zwei eigentlich unvergleichbare Dinge provozierend nebeneinander stellen – den unendlich großen Schrecken eines frühen Todes und den im Vergleich dazu unendlich kleinen privaten Schrecken des Besitzes von zwei Karten, die jetzt nicht mehr zu einem schönen Konzertabend führen können.

Anschließend wurden die Schüler aufgefordert, in kleinen Gruppen Situationen aus dem Schulleben zu ermitteln und in einem Rollenspiel zu gestalten, in denen auch zu schnell jemand für eine unglückliche oder auch unbedachte Äußerung verurteilt wird. Bei den anschließenden kleinen Auftritten ging es vor allem um Beleidigungen. Eine Gruppe spielte allerdings auch eine kleine, aber wichtige Episode aus dem Roman „Homo Faber“ von Max Frisch, der gerade im Unterricht gelesen wurde: Dabei ging es um ein unverheiratetes Liebespaar, bei dem der Mann die Mitteilung der Frau, sie sei schwanger mit den Worten kommentiert: „Was machen wir denn jetzt mit deinem Kind?“ Hier wurde deutlich, dass es nicht mehr um Geschmacklosigkeit ging, sondern um eine nicht mehr zu reparierende Selbstoffenbarung, was die eigene Verantwortung in einer Beziehung angeht.

In der Abschlussdiskussion waren sich alle einig, dass dieses „Recht auf Selbsterklärung“ viel zur Verbesserung des Miteinanders beitragen könne. Eine Gruppe von Schülern erklärte sich bereit, einen entsprechenden Aufruf in der Schülerzeitung zu bringen.

Aufgabe:

  1. Analysiere den Text, indem du ihn mit seinem Kontext vorstellst, seinen Aufbau erläuterst und die Position des Redners herausarbeitest.
  2. Nimm Stellung zu der Forderung des Redners, das Recht auf Meinungsfreiheit um ein „Recht auf Selbsterklärung“ zu erweitern.