Lessing, Hamburgische Dramaturgie zum Thema Fürsten und Helden – Übung im Textverständnis (Mat4996)

Worum es hier geht:

Im Folgenden zeigen wir, wie man einen Text von Lessing zum Thema „Worauf kommt es im Theater an?“ aus dem 18. Jhdt. sich „aufschlüsselt“ und so versteht.

Zu finden ist der Auszug u.a. hier.

 

  1. [Ausgangspunkt: These: Fürsten und Helden nur teilweise interessant im Drama]
    Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei.

    1. [Vertiefungsthese: Mitgefühl eher mit Unseresgleichen]
      Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muss natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen.
    2. [Relativierung der Bedeutung von Wichtigkeit/ Größe]
      Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.
  2. [Absicherung der Titel-Unwichtigkeit über eine Autorität]
    »Man tut dem menschlichen Herze Unrecht, sagt auch Marmontel,
    [https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Fran%C3%A7ois_Marmontel]
    man verkennet die Natur, wenn man glaubt, daß sie Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren.

    1. [Hinweis auf Alltagserfahrung: Wichtigeit von Menschen]
      Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen überhaupt: diese sind pathetischer, als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig.
    2. [Durchspielen eines Beispiels]
      Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Unglücklichen ist, den seine Gefälligkeit gegen unwürdige Freunde, und das verführerische Beispiel, ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre darüber zu Grunde gerichtet, und nun im Gefängnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen?
    3. [Was bei einem Menschen wirklich zählt]
      Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattin, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der äußersten Bedürfnis, und kann ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts als Tränen geben.
    4. [Abschluss-Fazit: Das Beispiel zeigt das Ausmaß an Tragik]
      Man zeige mir in der Geschichte der Helden eine rührendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation!
    5. [Ausbau des Beispiels in Richtung Tragik]
      Und wenn sich endlich dieser Unglückliche vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfährt, daß der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und fürchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie glücklich er habe leben können, gesellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragödie würdig zu sein?
    6. [Auseinandersetzung mit einem Einwand]
      Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? findet sich denn nicht dieses Wunderbare genugsam in dem plötzlichen Übergange von der Ehre zur Schande, von der Unschuld zum Verbrechen, von der süßesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem äußersten Unglücke, in das eine bloße Schwachheit gestürzet?«
  3. [Abgrenzung des bürgerlichen Trauerspiels von den großen frz. Dichtern]
    Man lasse aber diese Betrachtungen den Franzosen, von ihren Diderots und Marmontels, noch so eingeschärft werden: es scheint doch nicht, daß das bürgerliche Trauerspiel darum bei ihnen besonders in Schwang kommen werde.

    1. [Ursachenforschung zur weiteren Bestätigung der eigenen Auffassung]
      Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere äußerliche Vorzüge verliebt; bis auf den gemeinsten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seines gleichen, ist so viel als schlechte Gesellschaft.

Auswertung:

  1. Lessing wendet sich gegen eine Säule der Dramentheorie des Aristoteles, die seit der Zeit der alten Griechen die europäische Theaterkultur bestimmte.
  2. Konkret geht es ihm um die Forderung des Aristoteles, die Tragödie solle das Schicksal bedeutender Menschen zeigen.
  3. Grund dafür ist die Vorstellung, dass dann die moralische Wirkung, auf die es ihm ankam, größer wäre.
  4. Das verkehrt Lessing genau ins Gegenteil: Er geht nämlich von einem bürgerlichen Mitleidsbegriff aus: Je näher mir jemand ist, desto mehr kann und muss ich mit ihm leiden.
    Vor diesem Hintergrund entwickelte er auch das sog. „bürgerliche Trauerspiel“, z.B. „Emilia Galotti“. Dort wird der Übergang gezeigt: Sie ist zwar noch adlig, aber das spielt keine Rolle. Es geht um bürgerliche Tugend von Anstand und Sittlichkeit.
  5. Er sichert das auch ab gegen den Einwand, mit einfachen Menschen könne man nichts „Wunderbares“ zeigen. Dafür malt er einen fiktiven Fall extrem aus, um das Ungeheuerliche an ihm zeigen.

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