Martin Auer, „Die Leserin“ – oder die Frage, wozu Literatur eigentlich gut ist (Mat7071)

Martin Auer, „Die Leserin“ – oder die Frage, wozu Literatur eigentlich gut ist

  • Martin Auers Kurzgeschichte wirft die Frage auf, was Lesen eigentlich ist und welche Möglichkeiten des Umgangs mit Literatur es gibt.
  • Durchgespielt wird der Fall auf ansatzweise satirische Weise am Beispiel einer Kassiererin, die immer triviale Groschenromane liest und in dieser Traumwelt auch bleibt, als sie die reale erleben könnte.
  • In der Geschichte geht es um eine einfache Kassiererin,
    • deren eigentliches Leben daraus besteht,
    • dass sie sich mit Hilfe von Romanen aus dem Bereich der Trivialliteratur bei jeder Gelegenheit in eine schönere Welt hineinträumt.
    • Als sie dank eines Lottogewinns die Gelegenheit bekommt, ihre schönste Traumwelt, nämlich die der Südsee, wirklich zu erleben, tut sie dort nichts anderes, als was sie immer getan hat. Sie liest weiter entsprechende Romane.
  • Das Schöne an der Kurzgeschichte ist,
    • dass sie einerseits Kritik übt daran, dass jemand statt wirklichen Lebens nur Abbilder von ihm zu sich nimmt.
    • Andererseits ist die Frage interessant, ob diese Frau nicht auf ihre Weise auch glücklich ist – vor allem gewinnt nicht jede Frau im Lotto – und dann ist es vielleicht wirklich besser, wenn man zumindest in einer Traumwelt glücklich ist.

Zu finden ist die Geschichte in:

Martin Auer, Von Pechvögeln und Unglücksraben. Bilder von Simone Klages, Beltz-Verlag: Weinheim und Basel 1989, S. 41-44

Beispiel für den kreativen Umgang mit dieser Geschichte:

Stellen wir uns doch einfach mal vor, eine Frau bekommt eines Tages dieses Buch in die Hand und erinnert sich an eine Situation, die sie auf einen unglaublichen Gedanken bringt.

Sie setzt sich hin und schreibt folgenden Brief an den Verfasser:

Sehr geehrter Herr Auer,

ich wende mich in einer sehr ungewöhnlichen Situation an Sie. Vielleicht können Sie mir helfen.

Vor ein paar Tagen suchte ich ein Weihnachtsgeschenk für meine Enkelin, die eine ebenso begeisterte Leserin ist wie ich selbst. Auf einem Büchermarkt fand ich ein Buch mit dem schönen Titel „Von Pechvögeln und Unglücksraben“. Beim Blättern stieß ich dann auf die Geschichte „Die Leserin“ und fühlte mich schon vom Titel her angesprochen.

Beim Lesen wurde ich an eine Situation erinnert, die mir genau so oder zumindest ähnlich passiert ist. Ich arbeitete damals als Kassierin in einem etwas abgelegenen Supermarkt, der vor allem von den Rush hours des Berufsverkehrs lebte. Es gab also auch Zeiten, wo man ziemlich verloren an der Kasse hätte sitzen können. Ich natürlich nicht – denn mir ging es genau wie der jungen Frau in der Geschichte. Ich las leidenschaftlich gerne – und mein Kontrastprogramm zu dem etwas öden Berufsalltag war tatsächlich die Lektüre von Heften, die im Deutschunterricht der Schule damals etwas abfällig als „Groschenromane“ bezeichnet wurden.  Ich fand den herablassenden Umgang mit dieser Art von Literatur immer als unangemessen – und habe mich wohl schon rein provozierend in sie vertieft. Ich weiß gar nicht mehr, wie die Reihe hieß, die mir besonders gefiel. Woran ich mich aber noch genau erinnere, ist diese Situation: Ich sitze an der Kasse, kein Mensch weit und breit. Also dachte ich: Warum nicht ein bisschen lesen. Ich hatte mir gerade eins dieser Hefte gekauft und freute mich schon auf den Abend. Ich weiß noch, dass der Titel irgendetwas mit Südsee zu tun hatte. Das Problem war: Wenn ich einmal angefangen habe zu lesen, versinkt alles um mich herum. Leider bekam ich auch zu spät mit, dass ich aus einigem Abstand von einem jungen Mann beobachtet wurde, der die Situation anscheinend sehr interessant fand. Regelrecht rausgerissen wurde ich aus meinen Träumen vom Filialleiter, der wohl von seinem Büro aus alles mitbekommen hatte. Er war sauer und machte mir deutlich, dass ich seiner Meinung nach kostbare Arbeitszeit verschwendete. Es wäre doch wohl selbstverständlich, dass ich in Zeiten ohne Kundenkontakt zumindest aufräumen und schon mal den Boden reinigen könnte. Dann der Höhepunkt: Wenn er mich noch mal beim Lesen erwischen würde, gäbe das eine Abmahnung. Ich war ziemlich verdattert – aber das steigerte sich dann, als der junge Mann –  nach seinem Einkauf – beim Bezahlen meinte: Danke übrigens für die kleine Szene eben. Die hat mich auf eine Idee gebracht. Vielleicht sehen wir uns ja mal in der Südsee. Ich habe dann leider nicht nachgefragt, was er damit meinte. Und jetzt frage ich mich, ob ich zu diesen Pechvögeln gehöre, die er in das Buch aufgenommen hat.

Sollten Sie tatsächlich dieser Mann sein, würde mich das freuen. So bin ich zumindest ein bisschen berühmt geworden, wenn auch nur zwei Menschen davon wissen: Ich nach dem Buchkauf – und Sie vielleicht nach dem Erhalt dieser Mail.

Auf jeden Fall würde ich mich freuen, wenn Sie mir vielleicht noch mehr darüber mitteilen könnten, wie diese Geschichte von einer Supermarktkasse auf den Buchmarkt gekommen ist.

Da ich durch das viele Lesen von Büchern nicht dazu gekommen bin, mich mit diesen modernen Kommunikationswegen wie E-Mail u.ä. vertraut zu machen, hat freundlicherweise mein Schwager gerne die Aufgabe übernommen, den Kontakt zu Ihnen herzustellen.

Sollten Sie aber mit der Figur in Ihrer Geschichte nichts weiter zu tun haben wollen – vielleicht mögen Sie ja Leute, die sogar noch in ihrem Traumurlaub Heftromane lesen, genauso wenig wie mein damaliger Deutschlehrer, dann kehre ich reumütig in Ihr Buch zurück und wünsche Ihnen noch viele weitere Erlebnisse, die solche schönen Geschichten hervorbringen.

Anila Legenda

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