Max Frisch, „Andorra“ – Charakterisierung der Figur des Paters (Mat2416)

Anmerkung: Die hier verwendeten Zitatstellen beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe der Suhrkampbasisbibliothek.

  1. Der Pater ist schon wegen seines Berufes ein Idealist. Er will alle Menschen gleich lieben und sie gut behandeln.
  2. Er ist der Ratgeber der Familie des Lehrers Can und zugleich Teil der andorranischen Gesellschaft. Das zeigt auch seine schwierige Lage. Andri bringt den Beruf des Paters auf den Punkt. „Sie sind Christ von Beruf“ (Seite 82). Man erkennt, dass das Verhalten eher amtlich als menschlich ist.
  3. Gleich zu Beginn des Dramas taucht der Pater auf. Er unterhält sich mit Barblin, die Angst vor einem möglichen Überfall der Schwarzen hat. Der Pater beruhigt sie aber mit einer Vorausdeutung, die der Leser noch gar nicht bemerken kann. „Noch haben sie eurem Andri kein Haar gekrümmt.“(Seite 5) Er hat eine doch ziemlich naive Vorstellung von seinem schneeweißem Andorra, das doch gar nicht so unschuldig ist.
  4. Insgesamt hat der Pater zwei Treffen mit Andri. Im ersten soll er im Auftrag von Andris Pflegemutter Andri zur Annahme seines Judenseins überreden. (Seite 59) Er versagt jedoch kläglich in seiner Vermittlerrolle, da er Andri von oben herab behandelt. Dies zeigt sein Hand-auf-die-Schulter-Legen, was Andri nicht leiden kann. „Alle legen ihre Hände auf meine Schulter.“ (Seite 58)  Dies hängt sicher damit zusammen, dass er es als falsche Geste der Mitmenschlichkeit durchschaut, hinter der kein wirklich positives Gefühl steht, das auch die Bereitschaft einschließt, für den Anderen etwas zu tun.
  5. Der Pater versagt aber auch in seiner Rolle als Seelsorger. Er redet an Andri vorbei und geht nicht richtig auf seine Probleme ein. Zudem hat er auch zugelassen, dass ein Mitglied seiner Gemeinde diskriminiert wird. Schon alleine durch die äußeren Umstände fühlt sich Andri beim Pater nicht wohl, da das Treffen in der Kirche stattfindet und der Pater zur Messe angekleidet wird, deshalb will sich Andri nicht in Ruhe hinsetzen.
  6. Der Pater erzählt Andri, dass er ihn beobachtet, doch das kränkt Andri mehr, als dass es ihm hilft, da er sich von allen nur beobachtet fühlt und nicht weiß warum. „Ich habe dich beobachtet“ (Seite 58) Wenn der Pater erklärt, dass Andri viel klüger sei und andere Qualitäten habe als die Andorraner, dann ist das nur scheinbar positiv, in Wirklichkeit schiebt es den Betreffenden ja noch mehr in eine Außenseiterrolle. Andri spürt das auch sehr deutlich und wehrt sich dagegen. Er möchte viel lieber ein Durchnittsandorraner mit einem Durchschnittsberuf sein.
  7. Man sieht, dass der Pater auch ein mit Vorurteilen behaftetes Bild von Andri hat, wenngleich diese Vorurteile auch auf den ersten Blick positiver und menschlicher aussehen mögen. Er sieht Andri nicht als typischen Juden, doch genau diese Unterscheidung zeigt, dass er sich nicht wirklich von Vorurteilen löst. Das ist der hauptsächliche Grund, warum das Gespräch scheitert. Andri hat diese unehrliche Liebe erkannt, da er ein Feingefühl für Heucheleien besitzt und er es fast tagtäglich mit falscher Liebe zutun hat, abgesehen vielleicht von zu Hause.
  8. Der Pater sagt, Andri habe was Gehetztes, doch er übersieht, dass das Gehetze von den Andorraner kommt. Während ihres Gespräches wird der Pater unruhig und immer ungeduldiger und beginnt, Andri nicht mehr als Individuum, sondern als Vertreter des jüdischen Volkers zu sehen. Man erkennt dies an dem Plural, den er benutzt. Statt auf Andri zu achten, redet er somit eine ganze Gruppe von Menschen an. Bei Andris Zusammenbruch zeigt der Pater ein kühles und beinahe peinlich berührtes Verhalten, statt Andri zu helfen. Er ist fast schon hilflos. „Du weinst ja!“ (Seite 59)
  9. Die Hilflosigkeit wird dann im zweitem Gespräch noch deutlicher. Der Pater soll nun im Auftrag des Lehrers Can Andri die Wahrheit über seine Herkunft erzählen. Dem Pater steht ein selbstbewusster Andri gegenüber, der seinen Weg gefunden hat. Der Pater versagt aufs Neue, weil er nur von christlicher Nächstenliebe redet.

 

Fazit

  1. Der Pater ist nicht dumm, oberflächlich oder gar schlecht, vielmehr ist er bloß unfähig, seine Vermittlerrolle korrekt auszuführen.
  2. Er hat den stärksten Charakter von allen Andorranern, da er in seiner Vordergrundszene einen Teil seiner Schuld erkennt und einsteht. Der Pater zeigt Reue und formuliert das zentrale Problem des Dramas: die Bildnisproblematik. Der Pater gibt zu, dass sein Bild, dass er von Andri hatte, falsch war. Schon seine Haltung gibt dies wieder. Er kniet und ist vor, nicht wie die anderen Andorraner hinter der Zeugenschranke. In seiner Beichte rechtfertigt sich der Pater nicht. Die Beichte endet mit dem Höhepunkt. „Auch ich habe ihn an den Pfahl gebracht.“ (Seite 62)
  3. Dies Bekenntnis ist umso höher zu gewichten, als er ja bei der Judenschau gar nicht anwesend ist.
  4. Andererseits spürt er wohl selbst, dass das keine wirkliche Entschuldigung ist, vielleicht hätte er Andri ja retten, zumindest aber in seinem schlimmsten Moment, nämlich der völligen Einsamkeit, bei ihm sein können.

 

Anmerkungen zu dieser Lösung

  1. Insgesamt ist diese Lösung etwa für einen Schüler der Klasse 10 ziemlich gelungen, vor allem weil von wichtigen Textstellen ausgegangen wird und sehr differenzierte Urteile formuliert werden.
  2. Hervorzuheben ist auch die Feinfühligkeit, mit der die falsche Freundlichkeit des Paters entlarvt wird. Außerdem wird auch ein sehr wichtiges sprachliches Phänomen berücksichtigt.
  3. Sehr gelungen erscheinen auch die Ausführungen am Schluss, wenn es um die Auswertung des Verhaltens im Bereich der Zeugenschranke geht.
  4. Vielleicht hätte man noch deutlicher herausstellen können, wofür der Pater hier steht (obwohl das indirekt eigentlich klar und in der Lösung auch angedeutet wird), nämlich eine Religion, die ihre eigenen Prinzipien (und sogar Herkunft!) nicht wirklich ernst nimmt, sondern sich in eine verlogene Haltung des Scheins flüchtet. Sehr reizvoll wäre ein Vergleich mit dem Verhalten des Pfarrers gegenüber Ill in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“. Aber das ist natürlich ein Punkt, auf den Schüler nicht kommen können.