Worum es geht:
Klärung der Frage, was versteht man beim Umgang mit Literatur unter “Charakterisierung” und was ist am Ende eine Charakteristik?
Vorüberlegungen:
- Die Charakterisierung, eine Figur aus einem literarischen Werk ist eine bestimmte Art von Interpretation. Es wird ein Teilaspekt, nämlich eben eine bestimmte Person, herausgegriffen.
- Man versucht dann herauszubekommen, was das Besondere dieser Figur ist und welche Bedeutung sie im gesamten Werk hat.
- Im folgenden wollen wir das mal am Beispiel der Barblin aus Frischs Theaterstück “Andorra” zeigen:
- Dabei zeichnen wir die Situation und die Entwicklung der Figur nach.
- Denn eine solche Charakterisierung ist keine Personenbeschreibung. Die wird nach systematischen Gesichtspunkten abgearbeitet: Aussehen, Beruf, Verhalten und so weiter.
- Eine literarische Charakterisierung muss demgegenüber die erzählerische beziehungsweise dramatische Entwicklung der Figur berücksichtigen.
- Dabei taucht die Frage auf, inwieweit man Erkenntnisse, die man als Leser erst später gewinnt, schon weiter vorne erwähnten sollte. Das kommt auf den Einzelfall an. Gerade in dem Stück “Andorra” verändert sich ja der Blick auf die Hauptfigur ganz wesentlich – und Barblins Beziehung zu ihm ist davon ja auch betroffen.
Unsere Vorgehensweise
Uns geht es hier nicht um die ideale Charakteristik, wie man sie etwa im Studium abliefern würde.
Es geht uns um eine Lösung, die für Schülerinnen und Schüler verständlich, aber auch nachvollziehbar ist.
In einem ersten Schritt blättern wir einfach das Buch (also die schriftliche Vorlage für das Theaterstück) durch und versuchen Situationen und Verhaltensweisen von Barblin festzuhalten.
Wenn es dann zu Veränderungen bzw. Weiterentwicklungen kommt, wird es besonders interessant.
Am Ende geht es dann noch um die zentrale Aussagen, die sich mit Barblin verbinden, und ihre Rolle bzw. Funktion im Stück.
Inhaltsübersicht als praktische Hilfe
Es ist natürlich sehr hilfreich, wenn man eine gute Übersicht über den Inhalt des Stücks hat. Dann braucht man nur noch die Stellen anzustreichen und dann auszuwerten, in denen die Figur Barblin eine Rolle spielt.
Diese Übersicht stammt z.B. von der Seite:
https://www.einfach-gezeigt.de/frisch-andorra-inhalt-zentrale-textstellen-interpretation
Auswertung der Übersicht für die Charakterisierung
- Im ersten Bild weißelt die 19jährige Barblin die Mauer ihres Wohnhauses und muss sich gleichzeitig der Anmache des Soldaten Peider mit Hinweis auf ihre Verlobung zu erwehren. Das gelingt aber nur zum Teil, zumal sie keinen Namen nennen will.
- Ein gewisses Selbstbewusstsein der jungen Frau wird deutlich – sie streckt dem Soldaten sogar die Zunge heraus.
- Der Pater hat eine gute Meinung von Barblin und bezieht sie sogar in die Frage mit ein, wie man ihren Vater, den Lehrer vom Trinken abhalten könnte.
- Allerdings bekommt Barblin von dem Geistlichen keine Hilfe bei ihrer Angst vor der Bedrohung durch das Nachbarvolk der Schwarzen. (vgl. S. 9),
- Barblin hat auch schon recht konkrete Vorstellungen, was bei einem Überfall auf das eigene Land den Juden droht. Wenn man das gesamte Stück bereits kennt, weiß man natürlich, dass sie hier vor allen Dingen an Andri denkt, mit dem sie heimlich verlobt ist. Der ist zu diesem Zeitpunkt ja noch ein von ihrem Vater angeblich geretteter junger Jude aus dem Nachbarland.
- Auf S23 bekennt sich Andri dann gegenüber dem Soldaten zu seiner Verlobten. Es wird deutlich, dass der Soldat sein Konkurrent ist. Das verstärkt den Eindruck der Bedrohung für Barblin.
- Im zweiten Bild wird die Beziehung zwischen Barblin und Andri dann sehr deutlich. Sie möchte ganz normal geliebt werden von ihm. Er ist auch bereit dazu, kämpft aber immer mit der Frage seiner Identität. Am Ende lässt er Barblin allein schlafen – was sicher den moralischen Vorstellungen der Entstehungszeit des Dramas entspricht. Beim Abschied bekommt Andri keine richtige Antwort mehr von ihr, was die Gefahr angeht, die von dem Soldaten ausgeht.
- Auf der S. 44 kommt es dann zum Eklat: Andri fragt den Lehrer, ob er mit einer Hochzeit mit Barblin einverstanden ist. Dabei macht er auch deutlich, dass sie beide schon ganz lange von der gemeinsamen Heirat träumen und wichtig ihnen ihre Beziehung ist. Auch sei es für sie ein großes Glück gewesen, als ihnen gesagt wurde, dass er nur der Pflegesohn sei und eine Hochzeit damit keinen Inzest bedeute.
- Als Barblin dann von ihrem Vater hören muss, dass diese Hochzeit dennoch nicht stattfinden könne, bricht sie in Tränen aus und läuft weg. Vorher hat sie angedeutet, dass sie sich dann umbringen werde.
- Andri bleibt, erfährt aber auch nicht den wahren Grund. Die Mutter vermutet Eifersucht.
Vorläufiges Schaubild der Entwicklung in der ersten Hälfte des Stückes
Erläuterung des Schaubildes
- Das Schaubild betrachtet Barblin in den ersten Bildern zwischen den Polen Liebe einerseits und Lüge und Hass andererseits.
- Dementsprechend werden auch die Farben im Bereich der Details verwendet.
- Ganz unten sieht man die große Entwicklungslinie, was den zentralen Konflikt angeht.
- Zeitlicher Ausgangspunkt ist die Liebe zwischen dem Lehrer und der Senora.
- Aus der entsteht als gemeinsames Kind Andri.
- Andri wird dann vom Lehrer nach Andorra mitgenommen, während die Senora bei ihren Schwarzen bleibt.
- Den anderen Leuten wird Andri als ein gerettetes Judenkind präsentiert.
- Andri und Barblin werden zunächst als Geschwister behandelt. Das bedeutet natürlich, dass sie die empfundene Liebe zueinander nicht ausleben können.
- Umso mehr freuen sie sich dann, dass sie damit von ihrem Liebesschmerz, nicht heiraten zu können, befreit werden.
- Was die Dramenhandlung angeht, so beginnt sie damit, dass Barblin den Soldaten abweist. Der antwortet mit einer Drohung.
- Dazu kommt bei Barblin die Angst vor den Schwarzen. Die bedeuten für sie vor allen Dingen eine Gefahr für ihren Freund Andri, der ja als Jude gilt.
- Nebenbei soll Barblin auch noch den Lehrer, ihren Vater, vom Trinken abhalten. Ihr wird also ein gewisses Maß an Verantwortung zugetraut und zugemutet.
- Was ihre eigentliche Angst vor den Schwarzen angeht, so bekommt sie keine Hilfe vom Pater.
- Verschärft wird die Situation dann durch zwei Entwicklungen:
- Zunächst outet sich Andri gegenüber dem Soldaten als Verlobter von Barblin.
Das bedeutet, dass sich bei seinem Gegner Geilheit und Hass auf den angeblichen Juden verbinden. - Zwischen Barblin und Andri wird deutlich, dass sie beide sich lieben. Aber Andri ist durch sein Identitätsproblem doch immer wieder abgelenkt.
- Zunächst outet sich Andri gegenüber dem Soldaten als Verlobter von Barblin.
- Ganz rechts unten sieht man die Zuspitzung der Lage.
- André traut sich schließlich, seinen angeblichen Pflegevater, um die Hand seiner Tochter zu bitten.
- Der erklärt das für unmöglich,
- was weder Barblin noch Andri verstehen können.
- So kann das bei ihnen nur Verzweiflung und Protest auslösen.
- Die Mutter, die die Wahrheit auch noch nicht kennt, vermutet bei ihrem Ehemann Eifersucht gegenüber Andri.
Die weitere Entwicklung
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Es gehört zur Tragik des Dramas, dass es nach diesem Eklat nur noch eine fast schon gespenstische Szene gibt (Bild 6), in der Andri brav vor der Tür des Zimmers von Barblin liegt, während diese vom Soldaten vergewaltigt wird.
- Für die Klärung von Barblins Situation ist zunächst einmal wichtig, dass sich Andri ganz deutlich gegen den Lehrer wendet und Selbstbestimmung für sich und die Liebe zu Barblin möchte:
„Soll er doch heraufkommen, dein Alter, soll er mich auf der Schwelle seiner Tochter finden. Meinetwegen! Ich geb’s nicht auf, Barblin, ich werd auf deiner Schwelle sitzen jede Nacht, und wenn er sich zu Tod säuft darüber, jede Nacht.“ - Dazu kommt eine deutliche Abgrenzung zur andorranischen Gesellschaft:
„Ich schleiche nicht länger herum wie ein bettelnder Hund. Ich hasse. Ich weine nicht mehr. Ich lache. Je gemeiner sie sind wider mich, um so wohler fühle ich mich in meinem Haß. Und um so sichrer. Haß macht Pläne. […] Ich hasse ihr Land, das wir verlassen werden, und ihre Gesichter alle. Ich liebe einen einzigen Menschen, und das ist genug. […] Wir werden heiraten. Glaub mir, es gibt eine andre Welt, wo niemand uns kennt und wo man mir kein Bein stellt, und wir werden dahin fahren, Barblin, dann kann er hier schreien, soviel er will.„ - Dazu kommt anschließend das Gespräch mit dem Lehrer: Dieser versucht, Andri die Wahrheit über sich zu sagen, dass er sein Sohn ist und kein jüdisches Findelkind. Aber Andri will seinem ziemlich betrunkenen Vater nicht zuhören. So gibt es keine schnelle Scheinlösung: Keine Gefahr mehr für Andri als Jude – aber auch keine Heirat mit seiner Halbschwester Barblin.
- Für die Klärung von Barblins Situation ist zunächst einmal wichtig, dass sich Andri ganz deutlich gegen den Lehrer wendet und Selbstbestimmung für sich und die Liebe zu Barblin möchte:
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Im weiteren Verlauf des Dramas spielt Barblin zunächst keine direkte Rolle mehr.
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Erst im Bild 11 – nach dem Einmarsch der Schwarzen kommt es noch einmal zu einer Begegnung zwischen ihr und Andri. Dieser hat kein Verständnis für die Opfer-Situation Barblins, sondern quält sie mit Fragen nach ihrem angeblichen Verhältnis zu Peider und wird dann sogar zudringlich. Barblin hat Andri noch verstecken wollen, aber der Soldat verrät seinen Konkurrenten, der von den Schwarzen abgeholt wird.
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Im letzten Bild versucht Barblin vergeblich, die Andorraner zum Widerstand zu bewegen. Andri wird als angeblicher Jude ermordet und Barblin weißelt wieder wie am Anfang ihr Haus und bewacht am Ende die zurückgelassenen Schuhe Andris. Damit zeigt sie am Ende ihre fortdauernde Verbundenheit mit ihm.
Gesamteinschätzung der Figur der Barblin
Insgesamt ist Barblin stark in ihrer Liebe und riskiert auch viel, wird aber Opfer der Verhältnisse.
Auffallend ist, dass Barblin am Anfang relativ passiv ist, zum Beispiel nicht über ihre Ängst und evtl. Eine mögliche Flucht mit Andri spricht. In dieser Phase ist sie nur die Liebende, die sich mit Zärtlichkeiten begnügt.
Angesichts der für sie unverständlichen Ablehnung einer Heirat mit Andri durch den Lehrer zeigt sie Entschlossenheit und droht sogar mit ihrem Tod. Später dann tut sie alles, um Andri zu schützen, scheitert aber an der Feigheit der Andorraner und letztlich der zu spät aufgegebenen Lüge des Lehrers im Hinblick auf Andris Abstammung.
Vor diesem mörderischen Hintergrund kommt ein anderer Aspekt der Tragik dieses Stückes nicht mehr zum Tragen: Denn ihre Beziehung zu Andri hätte ja keine Zukunft gehabt, da sie Halbgeschwister sind. Ihr Glück über die zwischenzeitliche Lüge des Lehrers ihnen gegenüber wird somit zurückgenommen. Ein interessanter Aspekt, den man offen diskutieren kann: Hätte mehr Ehrlichkeit von Seiten ihres gemeinsamen Vaters vielleicht gar nicht erst eine Liebesbeziehung entstehen lassen und so diesen Aspekt der Tragik verhindert?