Wieso wirkt Max Frischs Stück „Andorra“ so „ausgedacht“ und was bewirkt diese Parabel-Eigenschaft? (Mat4867)

Die zweite literarische Besonderheit von Frischs „Andorra“

  • Neben dem epischen Theater ist eine zweite literarische Besonderheit noch interessant.
  • Es geht um die sogenannte Parabel. Das hat nichts mit Mathematik zu tun. Sondern es wird in der Parabel eine Geschichte erzählt, die auf einen bestimmten Punkt zuläuft, der die Aussage des Textes zeigt.

Das Besondere an einer Parabel

  • Nun ist bei der Parabel die Beispielgeschichte in der Regel so konstruiert, dass das, was man wirklich sagen will, eben an einem anderen Fall gezeigt wird.
  • Berühmt ist die Geschichte vom Propheten Nathan im Alten Testament der Bibel.
    • Der will seinem König David klarmachen, dass er aus eigennützigen Motiven heraus einem untergebenen Offizier die Frau weggenommen hat.
    • Damit es leichter geht, hat er diesen Mann sogar bewusst in den Tod schicken lassen.
    • Der Prophet Nathan entscheidet sich nun dafür, den König David nicht direkt mit diesem Vorwurf zu konfrontieren.
    • Sondern er erzählt ihm die Geschichte von einem reichen Mann, der viele Schafe hat. Er nimmt aber einem armen Nachbarn, der nur ein einziges Schaf hat, dieses weg, um es für eine Gastmahlzeit zu verwenden.
    • An der Stelle wird es nun spannend: König David merkt gar nicht, dass er selbst betroffen ist. Er spricht schnell ein wütendes Todesurteil über diesen reichen Mann aus.
    • Darauf antwortet Nathan nur cool: „Du bist der Mann.“
    • Damit hat der König sich selbst das Urteil gesprochen.
    • Zurück zum Begriff der Parabel: Die hat ja in der Normalform zwei parallele Äste. Der eine ist die reale Untat König Davids. Man nennt das die Sachseite der Parabel.
    • Die lässt Nathan erst mal aus und präsentiert die sogenannte „Bildseite“, eine ausgedachte Geschichte, die aber auf den selben Punkt zuläuft wie die „Sachseite“ – nämlich auf die Untat: Einmal wird einem armen Mann sein größter Besitz, ein Schaf, weggenommen. Einem Offizier wird seine Frau als das Liebste, was er hat, geraubt – und er selbst muss dafür auch noch sterben. Es handelt sich also um eine viel größere, geradezu mörderische Untat.

Die Funktion der Parabel

    • Diese Parabelkonstruktion hat immer die Aufgabe, mögliche Erkenntnis Widerstände zu überwinden. Man wählt einen Umweg in einen neutralen Bereich hinein. Dort findet die Erkenntnis statt. Mit der kehrt man dann zum eigentlichen Problem zurück.
    • Man kennt das auch auf dem privaten Bereich: Wenn man zum Beispiel der Meinung ist, ein Freund mache einen großen Fehler. Dann ist es nicht so geschickt, ihm das direkt so zu sagen. Besser ist es, ihm einen anderen Fall zu erzählen. Der kann durchaus ausgedacht sein. Wichtig ist nur, dass der Freund erst mal an einer fremden Sache erkennt, worum es geht. Und irgendwann kann er das dann auf die eigene Situation übertragen und die entsprechenden Schlüsse daraus ziehen.

Betrachtung des Stücks als Parabel

  • Wie sieht es nun in Frischs Theaterstück „Andorra“ aus?
  • Man merkt an allen Ecken und Enden, dass diese Geschichte konstruiert ist.
    • Zwar gibt es den Kleinstaat Andorra tatsächlich. Er hat aber nichts mit der konkreten Handlung zu tun.
    • Wenn man sich fragt, worauf denn das Theaterstück als Bildgeschichte der Parabel hinausläuft, kann man folgendes feststellen:
      • Es zeigt die Vorurteile, die man gegenüber einem Menschen hat. Das ist zunächst mal nichts Besonderes.
      • Spannender wird es an einem zweiten Punkt:
        Das Stück zeigt nämlich, dass der betroffene Mensch als Opfer einer falschen Sicht der anderen anfängt, unsicher zu werden. Es kann sogar sein, dass er an sich meint, das feststellen zu müssen, was die anderen ihm vorwerfen.
    • Damit wird auch deutlich, dass man diese Parabel gar nicht in erster Linie auf der Sachseite nur auf Vorurteile anderer Menschen übertragen muss.
    • Viel spannender ist die Frage:
      • Was machen die Vorurteile der anderen mit mir selbst?
      • Und wie gehe ich damit am besten um.
    • Klar ist zunächst einmal, dass es sehr gefährlich ist, wenn in einer Klasse zum Beispiel ein Schüler einfach eine Art Massenetikett mit sich herumträgt. Das haben die Mitschüler ihm gewissermaßen angeheftet.
    • Und irgendwann glaubt er selbst, dass er dumm ist oder ungeschickt oder sonst etwas.

Die doppelte Lehre dieses Parabelstückes 

    • Zum einen fordert es die Menschen um einen anderen herum auf, nicht einfach solche schnellen Urteile zu fassen oder zu übernehmen. Vorurteile an sich sind nichts Schlimmes. Sie müssen nur „Vor-Urteile“ bleiben, d.h. mit offenen Augen überprüft werden.
    • Die zweite Lehre, die man auf dem Stück ziehen kann, ist, dass man sich von den Urteilen  der anderen Menschen nicht bestimmen oder gar erdrücken lassen soll. Man soll sie ernst nehmen, aber nicht als endgültiges Urteil über einen selbst.
    • Dabei kann können zum Beispiel Freunde helfen, mit denen man darüber spricht.

Was wir auch heute noch aus diesem Parabelstück lernen könnten:

  • Das wäre dann auch schon ein Verbindungsstück zwischen der ersten und der zweiten Lehre der Parabel.
    • Ein Freund hilft einem dann, solche Urteile der anderen nicht zu ernst zu nehmen.
    • Außerdem kann er einem helfen, damit möglichst gut umzugehen.
  • Hilfreich kann dabei die Einsicht sein, dass die anderen nur Teil Aspekte von einem selbst sehen. Es kann zum Beispiel sinnvoll sein, sich auf seine Stärken zu konzentrieren und sich nicht ständig mit seinen Schwächen zu beschäftigen.
  • Auf jeden Fall nimmt es den anderen schnell den sogenannten Wind aus dem Segel, wenn man bestimmte Dinge, die man nicht so gut kann, einfach anerkennt. Man stimmt zum Beispiel an einer bestimmten Stelle den anderen zu. Und damit ist die quälende Differenz eigentlich schon mal beseitigt.

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