Eine Kurzgeschichte, die einem hilft, die richtigen Akzente zu setzen
Oliver Tape
Schönheit ist nichts als …
Sie kannten sich schon ziemlich lange. Aufgefallen war sie ihm damals, weil sie überhaupt nicht komisch geguckt hatte, als er in seinem Rollstuhl in den Klassenraum geschoben wurde. Bei den anderen war es die übliche Mischung aus leichter Irritation und etwas übertriebenem Verständnis. Mario kannte das. Er wusste, dass dieses Verständnis an sich nicht viel wert war. Das gehörte sich einfach so. Mehr Klarheit bekam man, wenn ein wirkliches Problem auftauchte. Zum Beispiel, wenn er mal wieder für ein paar Tage ins Krankenhaus musste. Wer kümmerte sich dann um ihn? Seine Mutter musste lange arbeiten – und es kam ja schließlich auch drauf an, dass er im Unterricht mitkam. Gisa war von Anfang an anders gewesen – auf eine ganz eigene Art und Weise strahlte sie so etwas wie Normalität aus. Bei einem Besuch im Krankenhaus hatte er mal mit ihr darüber gesprochen, warum sie damals so anders mit ihm umgegangen war. Gisa konnte das nicht erklären. Aber wie sie da so herumstammelte, hatte er plötzlich ein Bild vor Augen, das alles klarmachte. „Ich glaube, ich weiß jetzt, wie du mit so einem behinderten Menschen umgehst. Ganz natürlich – wie bei einem übergroßen Gepäckstück, das vor der Haustür abgelegt wurde.“ Gisa hatte leicht geschockt reagiert: „Ein Gepäckstück? Wie meinst du das?“ „Nun ja“, hatte er gesagt: „Man nimmt es einfach so, wie es ist, und überlegt, wie man damit am besten umgeht.“ Mehr hatte gar nicht mehr gesagt werden müssen. Dass man als Behinderter dieses Gepäckstück für immer bleiben musste, ließ er weg. Das war sein Problem, mit dem er fertig werden musste. Gisa konnte ihm am besten helfen, wenn sie gar nicht viel drüber redeten.
Und dann kam der Abend, wo er viel von dem zurückgeben konnte, was er bekommen hatte. Es klingelte – und das gleich dreimal nacheinander. Es war Gisa und sie war ziemlich fertig. Er machte ihnen erst mal einen Tee und irgendwann konnte sie dann drüber reden: Sie war mit ihrem Freund in die Stadt gefahren, weil sie ein Kleid suchte für den Abi-Ball. Erst hatte er geduldig in der Ecke gesessen und auf seinem Handy rumgespielt. Aber als dann auch das dritte oder vierte Kleid nicht passte, meinte er nur: „Tja, ein bisschen abnehmen wäre nicht schlecht. Guck dir Mara an, die hat es auch geschafft.“ In dem Moment war ihr alles eingefallen, was sie sich von ihm hatte anhören müssen. Es reichte. Sie hatte sich umgezogen – und war allein nach Hause gefahren. Erst im Bus hatte sie geheult. Und dann war sie hier bei ihm einfach ausgestiegen.“
Mario nahm sie in den Arm und meinte nur lächelnd: „Ja, ja, Schönheit kann auch eine Behinderung sein.“ Gisa machte sich los und schaute ihn überrascht an: „Hast du nicht zugehört? Er hat mir deutlich gemacht, dass ich nicht schön genug bin.“
Er lächelte immer noch: „Sorry, ich war schon einen Schritt weiter. Stell dir einfach mal vor, du wärst eine Superschönheit – und du kämst dann wie ich damals in eine neue Klasse. Alle starren dich an – die Jungs anders als die Mädchen. Einfach Freunde finden kannst du genauso wenig wie ein Millionär. Denn du weißt nie, ob sie dich nur mögen, weil du so gut aussiehst. Und wenn dann die ersten Falten kommen …“
Gisa unterbrach ihn, sich eine Träne wegwischend: „Ist schon okay, ich habe verstanden. Wer extrem schön ist, hat mehr zu verlieren.“
Und dann nach einigem Nachdenken: „Aber was hilft mir das jetzt?“
Mario wurde ganz ernst: „Warum hast du denn das Gepäckstück damals nicht nur ganz normal behandelt, sondern bist sogar freundlich geblieben, als es ein Gepäckstück blieb?“
Gisa überlegte kurz, dann sprudelte es aus ihr heraus: „Nun ja, weil du einfach schwer okay bist, man kann mit dir lachen, es wird nie langweilig und ich kann dir sogar erzählen, wie ich mich fühle, wenn ich aus einer Umkleide rauskomme.“
Mario nahm sie wieder in den Arm: „Tja, es gibt eben vieles, was einen Menschen gut aussehen lässt. Ich könnte dir jetzt erzählen, was ich an dir gut finde …“ Und das tat er dann auch.
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