„Lass uns gehen“ – Lied von Revolverheld

Warum Gedichte auf besondere Weise „Kunst“ sind:

Es gibt ja den schönen Spruch: „Kunst entsteht im Auge des Betrachters“ – und meistens bezieht man das auf gegenständliche Kultur, z.B. ein Gemälde oder eine Skulptur.

Aber es gilt auch für Texte und besonders Gedichte.

Die sind nämlich häufig lückenhaft, präsentieren nur Andeutungen – und dann fängt man als Leser an, sich darüber Gedanken zu machen.

Ganz extrem kann das bei Gedichten z.B. aus der Zeit des Expressionismus sein. Aber auch bei scheinbar ganz einfachen Gedichten kann es sinnvoll sein und bei einer Klassenarbeit oder Klausur mehr Punkte bringen, wenn man genauer darauf eingeht, was mit den Andeutungen gemeint sein könnte.

Wir zeigen das mal an dem Text eines Songs – und so etwas ist ja eigentlich auch ein Gedicht.

Es geht um das Lied der Gruppe „Revolverheld“ mit dem Titel „Lass uns gehen“. Der Text ist z.B. hier zu finden.

1. Versgruppe

  • Gleich am Anfang wird deutlich gemacht, dass dieses Lied so eine Art Aufruf ist. Es wendet sich an andere Leute. Offen bleibt, wer damit gemeint ist.
  • Auf jeden Fall wird in den folgenden Zeilen deutlich, was mögliche Gemeinsamkeiten zwischen dem lyrischen Ich und den angerredeten Menschen sind, nämlich die Ergebnisse des Lebens in der Stadt.
  • Es ist eine seltsame Kombination von Langeweile und Gestresstsein beziehungsweise Genervtsein. Das kann man sich so erklären, dass in der Stadt zwar vieles auf einen einstürmt, was man als Belastung empfindet. Aber deswegen muss es noch nichts Interessantes sein.
  • Interessant könnte die Unterscheidung auch noch zwischen Gestresstsein beziehungsweise Genervtsein sein. Ganz allgemein klärt man das durch Anwendungsbeispiele. Dann weiß man genauer, was man sich unter einer Formulierung konkret vorstellen kann. 
    • Gestresst ist man allgemein, wenn zu viel auf einen einstürmt. Das können aber durchaus auch schöne Dinge sein – etwa wenn eine Mutter oder Vater sich intensiv um die Kinder kümmern muss, das aber durchaus gerne tut.
    • Genervt ist man dagegegen etwa spezieller, nämlich durch Dinge, die einem gegen den Strich gehen, etwa technische Probleme.
  • Es folgt der Hinweis auf eine besondere Art von Müdigkeit, die wahrscheinlich nichts damit zu tun hat, dass man zu viel gearbeitet hat. Sondern es ist eben zu viel auf einen eingestürmt, was einen nicht wirklich interessiert, einem Impulse gibt, einem Lust auf irgendetwas macht.
  • Bezogen auf den Zusammenhang Stadt sind das auch die Menschenmassen, die einen anscheinend auch nicht aufmuntern. Man erlebt sie wahrscheinlich nicht als Einzelmenschen mit einer individuellen Geschichte und vielleicht interessanten Ansichten und Kontaktmöglichkeiten. Sondern es sind eben viele, die wie eine Welle an einem vorbeiströmen.

2. Versgruppe

  • In der  zweiten Strophe beschreibt das lyrische Ich dann genauer seine eigene Situation. Offensichtlich vermisst es Luft zum Atmen und einen freien Blick nach oben.
  • Was es umgibt, wird im Bild von Hochhäusern zusammengefasst, die einem die Seele verbauen. Die braucht offensichtlich Raum und Weite zum Atmen und damit zum Leben.
  • Die nächste Zeile präsentiert dann einen Widerspruch, nämlich zwischen der eigenen Erreichbarkeit und dem, was man erreichen kann. Das ist natürlich ein Wortspiel, das man vielleicht so auflösen kann: Man wird ständig von Leuten angesprochen oder tut das auch selbst und kommt dann gar nicht zu den Dingen, die einem selbst wichtig sein könnten oder sollten.
  • Die letzten beiden Zeilen dieser Strophe fassen das dann zusammen in einer Art Fluchtgedanke, zu dem die angeredeten Personen eingeladen werden.
  • Die Formulierung scheint hier allerdings mehr in die Richtung zu gehen, dass sich dieser Song an eine Person, vielleicht einen geliebten Menschen richtet, mit dem man zusammen fliehen möchte.
  • 3. Versgruppe

    Es folgt die Aufzählung von drei Städten, die wohl stellvertretend für alles stehen, was das lyrische Ich als belastend empfindet.

  • Eine interessante Idee wäre es sicherlich, eine besondere Eigenart der freien Natur hervorzuheben, nämlich dass dort der Regen sich eben nicht in den Straßen sammelt und dort dann auch abgeführt wird. Vielmehr ist Regen außerhalb der Städte etwas ganz Normales, ein Naturphänomen, das nicht gleich im Rinnstein endet.
  • Im weiteren Verlauf wird genauer auf das Ziel des Regens eingegangen, nämlich das Meer mit seinen Wellen angesprochen wird.
  • Die Strophe endet dann mit einer dreifach wiederholten Aufforderung, dass man gemeinsam gehen soll.

4. Versgruppe

  • Die Strophe wiederholt sich dann weitgehend, allerdings geht es jetzt um das Fragenstellen der Menschen, dass vermisst wird.
  • Im Gesamtkontext des Gedichtes ist das wohl so zu verstehen, dass es sich hier um negative Fragen handelt. Zum Beispiel: Was ist mit den anderen Menschen los?
    Denkt denn keiner so wie ich?

5. Versgruppe

  • In dieser Strophe werden noch einmal negative Auswirkungen der Stadt aufgelistet. Es geht um Ruhelosigkeit, die vor allen Dingen mit flackernden Lichtern verbunden ist. Hier kann man zum Beispiel Leuchtreklame denken.
  • In der Interpretation könnte man zum Beispiel nach Erfahrungen mit New York fragen, der Stadt, die niemals schläft.
  • Was die Menschen angeht, so werden mehrere Dinge kritisch miteinander verbunden: die Masse, das Gehetzte und die Notwendigkeit, schnell zu sein. Das dürfte auch zusammenhängen mit der Frage, inwieweit man etwas erreicht. Hier würde es dann aber auf jeden Fall um eine negative Variante gehen, also um die Erfüllung irgendwelcher Vorgaben, nicht das Erreichen eigener Ziele.

6. Versgruppe

  • Die nächste Strophe macht dann die Kommunikationssituation des Gedichtes deutlicher. Offensichtlich hat das lyrische Ich von einem Gegenüber Zeilen bekommen, sei es per Mail oder auf andere Weise.
  • Und es hat denen entnommen, dass “wir beide weg von hier wollen”. Damit wird deutlich, dass der Adressat ein Einzelmensch ist.
  • Anschließend wird die Situation in zwei Zeilen zusammengefasst: Es geht um eine Regensituation im Hier und Jetzt und den Traum von einem “Sommer in Schweden”.
  • Es muss also zwischen dem Absender und dem Adressaten eine gemeinsame Erfahrung oder zumindest Vorstellung geben. Vielleicht sind sie gemeinsam schon mal dort im Urlaub gewesen und fragen sich jetzt, ob sie das nicht wiederholen oder ausbauen sollten.

Abschließende Versgruppen

  • Wenn der Schluss hier richtig sein sollte, also diese Wiederholungen wirklich gesungen werden, könnte man sich fragen, ob es dafür auch einen inhaltlichen Grund gibt.
  • Der könnte darin bestehen, dass jetzt die Fragen, die ja jede Strophe eigentlich auch enthält, entsprechend aufhören und Ruhe einkehrt.
  • Interessant ist aber auch, dass zumindest an einer Stelle noch mal etwas Neues auftaucht, nämlich in der Zeile: “Könn’n wir endlich mal wieder Entscheidungen fäll’n”. Das wäre dann aber eine Entscheidung, die über das Gedicht und seine Sorgenlage (Vielleicht sogar Zwangslage) hinausgeht und sich mit dem erhofften freien, selbstbestimmten Leben beschäftigt.
  • In dem Zusammenhang könnte man auch die Frage diskutieren, inwieweit Kunst wirklich Ausdruck ist, also ein Raushauen all dessen, was einen quält. Und wenn sie dem Künstler gewissermaßen Luft gemacht hat, kann sie auch aufhören und Ruhe einkehren.