Rezension: Stefan Baron / Guangyan Yin-Baron, Die Chinesen: Psychogramm einer Weltmacht
Die Chinesen – Psychogramm einer Weltmacht
Die Rezension der etwas anderen Art:
Hier:
Stefan Baron / Guangyan Yin-Baron,
Die Chinesen: Psychogramm einer Weltmacht
Econ-Verlag 2018
Wir greifen im Folgenden auf die Ullstein eBooks-Ausgabe vom 9.2.2018 zurück. Darauf beziehen sich auch die Seitenangaben.
Die Rezension der etwas anderen Art:
Unser Ansatz:
Uns geht es vor allem darum, schnell und überzeugend deutlich zu machen, wieso unserer Auffassung nach dieses Buch „lesenswert“ ist.
Das tun wir, indem wir einen groben Überblick geben und an Schlüsselstellen zeigen, welcher Erkenntniswert sich mit der Lektüre für uns ergeben hat – was wir gerne weitergeben.
Zur Vorgehensweise:
Wir stellen hier nach und nach Fundstücke zusammen, begleiten also unsere eigene Lektüre – und am Ende ist hoffentlich etwas entstanden, was auch anderen Lesern Lust auf die Lektüre macht.
Grundsätzliches zu diesem Buch:
Ein großer Vorteil ist, dass dieses Buch von einem Ehepaar geschrieben worden ist. Er kann sich so aus der deutschen Perspektive um das Verständnis der Chinesen bemühen. Sie tut das aus der Insider-Perspektive.
Nach einer Einführung, in der es zum Beispiel um die Schreibweise chinesischer Namen, aber auch um das Problem geht, nämlich die „chinesische Herausforderung“
wird (ab S. 33) die „Psychologie“ der Chinesen vorgestellt, im Gegenzug die Entwicklung des westlichen Chinabildes, bevor es dann an die kulturellen Grundlagen geht mit dem Schwerpunkt auf dem Leben und Werk des Konfuzius (ab S. 66).“Zentrales Ziel der konfuzianischen Lehre ist es, das Zusammenleben so zu regeln, dass die Menschen in Harmonie miteinander und mit der Natur leben können. Konfuzius sieht den Menschen dabei nicht wie das Christentum als ein nach dem Ebenbild Gottes geschaffenes autonomes Individuum, sondern als Teil eines gesellschaftlichen Gesamtorganismus, in dem jeder Einzelne seinen festen Platz hat. Die angestrebte Harmonie will er durch ständige Selbstkultivierung herstellen. Sie ist in seinen Augen der Lebenszweck des Menschen. Damit werde dieser zum Herrn seines eigenen Schicksals.“ (67/68)Hier sind zwei Dinge interessant und diskussionswürdig:
1. das Konzept eines Menschenbildes, das dem uns seit der Antike gewohnten diametral entgegengesetzt ist
2. die Idee der „Selbstkultivierung“, die dann doch dem Individuum wieder einen wichtigen Status einräumt und übrigens mal mit dem Bildungsideal der Klassik verglichen werden sollte.
„Für Han Fei Zi, den Begründer des Legalismus, ist der Mensch von Natur aus schlecht und bleibt es auch. Die Geschichte ist für ihn daher eine ständige Abfolge von Konflikten und Verteilungskämpfen. Um ein gedeihliches Zusammenleben zu erreichen, setzt Han Fei Zi denn auch nicht auf Bildung, Tugend- und Moralregeln wie Konfuzius, sondern auf Kontrolle und Zwang, auf Herrschaft durch Furcht, nicht durch Ehrfurcht: »Der Weise regiert den Staat nicht, indem er sich darauf verlässt, dass die Menschen Gutes tun, sondern indem er dafür sorgt, dass sie nichts Unrechtes tun.« Für Ruhe und Ordnung können nach Han Fei Zi allein Gesetze sorgen, die klarstellen, was erlaubt und was verboten ist. Die Legalisten bauen auf eine Regierung durch Institutionen, nicht durch Personen; auf Streitverhinderung und -beilegung mittels juristischer Methoden, nicht durch anständiges Verhalten.“ (69)
Auch dieses Gegenmodell zu Konfuzius sollte man kennen – immerhin wird immer wieder auch darauf in China zurückgegriffen. Auf jeden Fall handelt es sich um ein Menschenbild, um das man möglicherweise mit samt seinen Konsequenzen nicht immer herumkommt.
„Qin Shi Huang Di verkörpert das Gegenteil dessen, was sich Konfuzius unter einem Philosophenkönig vorstellte. Er ist ein skrupelloser Realpolitiker und grausamer Tyrann. Sein Ziel ist eine umfassende, auch geistige Kontrolle des Landes. Konfuzianische Gelehrte werden wegen ihrer Opposition gnadenlos verfolgt, Tausende von ihnen lebendig begraben. Außer historischen Bänden über Medizin, Pharmazie und Landwirtschaft muss die Bevölkerung alle Bücher abgeben. Sie werden verbrannt. Wer weiter verbotene Bücher liest, riskiert die Hinrichtung – zusammen mit all seinen Verwandten. Die blutige und totalitäre Herrschaft dauert 15 Jahre. Dann stirbt der Kaiser. Er hinterlässt zwei der großartigsten Baudenkmäler der Weltgeschichte: die Anfänge der Großen Mauer und eine Tausende lebensgroße Terrakotta-Figuren starke Armee zur Bewachung seines Grabmals.“
Dieser Herrscher, der ab 221 v. Chr. regierte, und nun wirklich in die Geschichte eingegangen ist mit seinen zwei monumentalen Hinterlassenschaften, ist vor allem auch interessant wegen seines totalitären Regierungsansatzes. Sein Umgang mit Büchern erinnert an den Roman „Fahrenheit 451“, der in einem Staat spielt, in dem der Besitz von Büchern als schweres Verbrechen gilt.
Im zweiten Teil geht es um
„Erziehung und Sozialisation“,
„Denken und Wahrnehmung“,
„Sprache und Kommunikation“,
„Moral und Gesellschaft“,
„Mann und Frau“,
„Lebenseinstellung und Temperament“.
Die Themen des dritten Teils sind dann
„Wirtschaft und Arbeitswelt“
„Staat und Herrschaft
„China und die Welt„: Hier geht es vor allem um das Verhältnis der USA und Chinas. Dabei versuchen die Autoren deutlich zu machen, dass China insgesamt keine aggressive Strategie verfolgt, sondern nur mitbestimmender Teil einer neuen Weltordnung sein möchte. Demgegenüber werden die USA vor allem als Macht dargestellt, die hegemoniale Züge verfolgt.
Interessant sind die Ausführungen zur grundsätzlichen Friedfertigkeit der Chinesen: „Chinas Geschichte kennt kein Sparta … Die Chinesen […] haben kriegerische Nachbarn lieber mit Geschenken bestochen oder die Große Mauer gebaut, als gegen sie in den Krieg zu ziehen.“ (349)
Besonders diese grundsätzliche Interpretation der Chinesischen Mauer fanden wir sehr überzeugend – ebenso an anderer Stelle den Hinweis, dass China sich gegenüber unterworfenen Völkern immer mit einer zum Teil nominellen Oberhoheit begnügt hat und den geforderten Tributen zum Teil höherwertige eigene Geschenke gegenüberstanden. (vgl. 350)
Am Ende steht ein Ausblick und die Frage nach „Konvergenz, Koexistenz oder Kampf der Kulturen“
Anmerkungen zur Stabilität von Kulturen
Seite: 404
„Als Ergebnis historischer Lern-und Erfahrungsprozesse sind Kulturen von Natur aus träge. Niemand kann sich von seiner Kultur einfach verabschieden, selbst wenn er es wollte. Es ist wie in dem Lied »Hotel California« der Eagles: Man kann auschecken, aber nicht wirklich gehen.“
Anmerkung:
Aktuell hat man in einigen Staaten Westeuropas und besonders in Deutschland nicht den Eindruck, dass die Völker sich ihrer eigenen Kultur in diesem Ausmaß bewusst sind – bis hin zur Frage ihrer Verteidigung. Sonst hätte es nicht so einen starken Trend in Richtung Multikulturalismus gegeben. Wenn man sieht, in welchem Ausmaß hierzulande über „Identität“ geredet wird, kommt einem die zugespitzte Bemerkung in den Sinn: „Je mehr man über etwas redet und sogar darüber streitet, desto mehr hat man es bereits verloren.“ Das Ehepaar Baron setzt hier einen starken Gegenakzent, zu dem auch das folgende eindrucksvolle Zitat gehört:
404
„In seinem Buch »On China« berichtet Henry Kissinger von der historischen Begegnung seines damaligen Chefs Richard Nixon mit Mao 1972 in Peking, die nach über zwei Jahrzehnten der Feindschaft zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen China und den USA führte. Nixon schmeichelte dem »großen Steuermann«, er habe es geschafft, sein Land von Grund auf zu verändern. Mao jedoch habe abgewunken: »Ich habe es bloß geschafft, einige Orte in der näheren Umgebung von Peking zu ändern.« Selbst wenn man dabei die chinesische Bescheidenheitsrhetorik in Rechnung stellt –aus Maos Worten sprach die bittere Erkenntnis, dass Konfuzius größer war als er.“
Im selben Kapitel ist aber auch die Rede davon, in welchem Ausmaß sich diese alte – eben selbstverständliche und damit tief gegründete – Kulturgebundenheit auflöst bzw. verwandelt:
405
„China hat sich von der abgeschlossenen Agrargesellschaft, die es über Jahrtausende war, in den vergangenen drei Jahrzehnten mit Riesenschritten zu einer modernen Industrie-und Dienstleistungsgesellschaft gewandelt und in die interdependente Völkergemeinschaft integriert. Globalisierung und neue Informationstechnologien haben zudem das Tempo des Wandels in der gesamten Welt auf ein nie dagewesenes Niveau beschleunigt. Über die neuen Medien verbreiten sich kulturelle Einflüsse schneller und umfassender als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Wird China also mit fortschreitender Modernisierung und wachsendem Wohlstand immer westlicher werden?
Prima facie [Gemeint ist: „Auf den ersten Blick] legen dies manche Entwicklungen in dem Land durchaus nahe. Die strukturellen Veränderungen der Gesellschaft in der Folge von Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen, der deutlich gestiegene materielle Wohlstand und die Urbanisierung des Landes haben eine große Mittelklasse von inzwischen an die 500 Millionen Menschen entstehen lassen und diesen mehr individuelle Wahlmöglichkeiten eröffnet. Dies schafft auch Raum für Differenzierung gegenüber den traditionellen Werten. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Individualismus und Selbstverwirklichung in China an Bedeutung gewonnen haben.“
Man bekommt an dieser Stelle sehr stark den Eindruck, dass die die traditionellen Identitäten in Frage stellenden bzw. auflösende wirtschaftliche und damit auch kulturelle Globalisierung auch die Chinesen verändert. Interessant wird sein, wie sehr auch dort die Bereitschaft zur Selbstaufgabe damit verbunden sein wird.
Darauf geben die Verfasser dann die folgende Antwort:
406
„Triumphiert also auch in China am Ende das Individuum? Setzt sich auch dort das autonome gegen das interdependente Ich durch? Nähert sich das Land kulturell somit immer mehr dem Westen an? Geht langsam, aber sicher doch noch in Erfüllung, worauf viele im Westen seit langem bauen? Erweist sich Chinas staatskapitalistisches Wirtschafts-und Gesellschaftsmodell, das viele schon in der Welt des 20. Jahrhunderts als nicht überlebensfähig ansahen, nun mit etwas Verspätung wenigstens für das 21. Jahrhundert als ungeeignet? Bei solchen Fragen ist der Wunsch Vater des Gedankens. Der vor allem in den USA weit verbreitete Glaube, jedes andere Land wolle letztlich so werden wie sie, ist ein hochmütiger Irrglaube. Mit dem Taoismus gab es immer auch schon ein individualistisches Element in der chinesischen Kultur. Dieses hatte in der Geschichte mal mehr, mal weniger Gewicht. Ein Entweder-Oder ist den Chinesen ohnedies fremd.“
Fassen wir also zusammen:
China hat eine über fast schon Jahrtausende gewachsene kulturelle Identität, die nicht einmal der totalitäre Terror der Mao-Zeit zerstören konnte.
Die wirtschaftliche, technische und damit auch kulturelle Globalisierung verändert auch die Alltagskultur der Chinesen.
Die Verfasser glauben, dass dies aber nicht zu einer Verwestlichung führen wird.
Da ist man erst mal skeptisch, weil man auch die sogenannte „abendländische“ Kultur des Westens für sehr viel dauerhafter und besser verwurzelt gehalten hat.
Aber – und damit das Ende dieses kleinen dialektischen Ausflugs: Die Chinesen und besonders ihre Führung sehen, welche Probleme der Westen hat und zunehmend bekommt – und steuert entsprechend dagegen.
So – und schon setzt sich der Zwang zur Dialektik fort: Das hat man auch im spätstalinistischen Ostblock, vor allem in der Sowjetunion, geglaubt und trotzdem konnte die Meinungsbildung von oben nicht genügend gegensteuern und abschotten.
Und schon kommt der nächste Gegengedanke: Aber das war auch eine Kultur, die erst seit 1917 bzw. 1945 bestand bzw. aufoktroyiert wurde – die Chinesen sind hier wohl deutlich resistenter.
Fazit: Es bleibt abzuwarten, ob die Chinesen nicht nur den völlig neuen Beweis liefern, dass wirtschaftlicher Liberalismus und Erfolg ohne politischen geht, sondern auch noch zeigen, dass man Globalisierung betreiben kann, ohne sich selbst aufzugeben.
Chinas Jugend und die Globalisierung:
S 407
„Die Anschaffung eines Sitzklosetts ist noch kein Beweis für eine Verwestlichung. Der exzessive Gebrauch des Smartphones macht immer mehr junge Chinesen zu Brillenträgern, Hamburger machen sie dick, aber nicht westlich. »Die Essenz der westlichen Zivilisation ist die Magna Carta, nicht der Magna Mac«, so Samuel Huntington. »Dass nichtwestliche Menschen in Letzteren beißen, heißt keineswegs, dass sie Erstere akzeptieren.« [… ].“
Sehr nachdenklich macht einen hier schon die klare Unterscheidung zwischen der technischen und der kulturellen Seite der Globalisierung.
„Bei einer großen Umfrage der Purdue-Universität unter fast 1000 chinesischen Studenten sagten 44 Prozent von ihnen, sie sähen ihr Heimatland nach dem Studium in den USA positiver als zuvor, dagegen hatten nur 17 Prozent danach eine schlechtere Meinung. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat heiraten sie vielleicht in Weiß wie im Westen üblich, fügen sich aber meist wie selbstverständlich wieder in den Familienverbund ein. Sie wohnen vielfach nicht mehr bei ihren Eltern und sind im Umgang mit ihnen legerer, aber respektieren sie weiter und sorgen für sie. Chinas Jugend orientiert sich derzeit sogar zunehmend weniger am Westen als vor einigen Jahren und wendet sich wieder mehr der eigenen Kultur und Nation zu. Einen Ausländer aus dem Westen zu heiraten, hat für sie beträchtlich an Attraktivität verloren. Immer mehr chinesische Kinder und Jugendliche entdecken traditionelle chinesische Musikinstrumente wie die »Guzheng«-Zither, »Erhu«-Stehgeige oder »Pipa«-Laute. Vor allem reiche Chinesen lassen sich immer öfter Häuser im chinesischen Stil bauen.“
Dies ist ein besonders positives Beispiel für die Treffsicherheit, mit der es den beiden Verfassern gelingt, an aussagekräftigen Beispielen etwas Allgemeines zu verdeutlichen.
409
„Gewiss, Chinas Jugend frönt Konsum und Luxus mehr als Eltern und Vorfahren, aber das ist nicht westlich, sondern nur natürlich und menschlich. Schließlich kann sie sich auch mehr leisten. Und in vielen westlichen Verhaltensweisen und Produkten sieht sie schlicht und einfach nur m o d e r n e Verhaltensweisen und Produkte, die der gesamten Menschheit gehören.“
Eine sehr klare Zusammenfassung und Beantwortung der Frage, ob und inwieweit die Globalisierung über den Generationenwechsel zu einer Veränderung der chinesischen Kultur führt.
An anderer Stelle ist die Rede davon, dass die westliche Kultur ja aus chinesischer Sicht gerade in eine Krise gerät bzw. darin sogar möglicherweise versinkt.
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