Schiller, „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich bewirken?“ (Mat1187)

Schillers „Schaubühnen“-Text: Beispiel für „deep reading“ – Wie kommt man einem Text „auf die Schliche“

Im Folgenden wird versucht, einen über 200 Jahre alten Text möglichst optimal zu verstehen.
Das bedeutet zunächst einmal, ihn dort, wo er andere Wörter und Wendungen benutzt, regelrecht zu „übersetzen“. Darüber hinaus sollte er in heutiger Sprache zusammengefasst und auch – soweit nötig – kommentiert werden. Dabei geht es nicht nur um den Inhalt, sondern auch um den Gedankengang.
„Deep reading“ bedeutet bei all diesen Schritten, dass man möglichst genau auf den Wortlaut des Textes eingeht und ihn gewissermaßen „entfaltet“. Der Verfasser hat ja am Ende langer Überlegungen eine Art Bündel geschnürt, das man im Vorgang intelligenten Lesens wieder auseinandernimmt – wie ein Geschenk, das man regelrecht „ausbreitet“.
Schiller und sein Glaube an die moralische Wirkung des Theaters
Hier schon mal ein kleines Schaubild:

Vorbemerkung:

Am 26.6.1784 hält der immer noch recht junge Schiller (geboren 1759) eine Rede, in der er der Leitfrage nachgeht: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich bewirken?“

Dabei muss man zunächst wissen, dass mit einer „stehenden Schaubühne“ ein fest an einem Platz eingerichtetes Theater gemeint ist. Heute ist so etwas selbstverständlich, in der Geschichte taucht so etwas in Deutschland aber erst ab dem 17. Jahrhundert auf – und zwar als Hoftheater von Fürsten. Vorher und später auch parallel dazu gab es fahrende Schauspielergruppen, die nacheinander wie heute ein Zirkus an verschiedenen Orten eine Wanderbühne präsentierten.

Ein Nationaltheater, wie es in Frankreich oder England möglich war, konnte es in der deutschen Kleinstaaterei nicht geben, so sehr Dichter wie Lessing oder auch Schiller sich das wünschten.

Schiller kam es in seiner Rede darauf an aufzuzeigen, dass ein Theater nicht nur der Unterhaltung dient, sondern höhere Ziele verfolgen kann und soll.

Veröffentlicht wurde die Rede später unter dem Titel: „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet.“

Wir präsentieren und analysieren hier einen zentralen Auszug. Nicht ganz so wichtige Passagen haben wir ausgelassen.

In normaler Schrift wird im Folgenden der Auszug aus Schillers Rede präsentiert, unterbrochen von Erläuterungen und Anmerkungen in fetter und kursiver Schrift. Kritische oder weitergehende Anmerkungen sind rot gefärbt.
(…)
Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gerichte sich endigt.
Schiller beginnt mit einer sehr gewagten These. Immerhin behauptet er, dass die Bühne, also das Theater auch über so etwas wie Gerichtsbarkeit verfügt und dabei sogar mehr leisten kann als die normalen Gerichte. 

Wenn

  • die Gerechtigkeit für Gold verblindet und im Solde der Laster schwelgt,
  • wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten
  • und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet,

übernimmt die Schaubühne Schwert und Wage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl.

Schiller präsentiert hier drei Fälle, in denen seiner Meinung nach das Theater die Herstellung von Gerechtigkeit übernehmen kann, während die normale Gerichtsbarkeit scheitert. Dann betont er noch einmal, dass das Theater hier die Aufgabe der normalen Gerichte übernimmt, geht dann aber schon mal einen Schritt weiter und will wohl hervorheben, dass diese Gerichtsbarkeit schwerwiegender ist als die andere. Es geht also nicht nur um Ergänzung, sondern auch um Intensivierung im Bereich der Herstellung von Gerechtigkeit.
 
Wenn man sich die Fälle genauer anschaut, geht es zum einen darum, dass Gerichte blind werden, wenn Gold beziehungsweise Geld im Spiel ist und dabei sogar „schwelgen“, also die Laster, die man ihnen bezahlt (Sold) auch noch genießen
Im zweiten Fall geht es um die Frage der Macht von Menschen, die dabei die Gerechtigkeit sogar noch verspotten können.
Abgeschlossen wird die kleine Liste durch die Furcht, die natürlich auch die Obrigkeit empfinden kann. Hier kann man zum Beispiel an einen Richter in Süditalien denken, der nicht wagt, gegen den Willen der örtlichen Mafia zu entscheiden.
Das ganze Reich der Phantasie und Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem Wink zu Gebot.
  • Kühne Verbrecher, die längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen
  • und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein schändliches Leben.
  • Ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei,
  • und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr Gedächtnis. […]
In diesem Abschnitt wendet sich Schiller den Mitteln zu, über die seiner Meinung nach das Theater verfügt. Da ist zum einen die Fantasie, das Kreative der Kunst, dann die Geschichte in ihrem drei Spielarten der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. 
Anschließend geht er auf einige Aspekte dieser höheren, künstlerischen Gerichtsbarkeit ein.
  1. Zunächst einmal geht es darum, dass auch nachträglich, also nach dem Tode von Verbrechern, diese noch bestraft werden können. Hierzu kann einem zum einen einfallen, dass die normale Auffassung besagt, dass mit dem Tode eines Menschen auch seine Schuld erlischt. Außerdem fragt man sich, was jenseits der Grenze der normalen Strafe denn noch erreicht werden kann.
  2. Dann wird ihr „schändliches Leben“ zum didaktisch-pädagogischen Impuls für die Nachwelt. Interessant dabei ist, dass zumindest der Eindruck erweckt wird, die Verbrecher müssten dabei dieses Leben „wiederholen“.
  3. Das fast schon Höllische daran ist für Schiller, dass sie dieses Leben nicht mehr ändern können. Als maximale Strafe kann schon begriffen werden, dass es keinen Platz für Reue und Buße mehr gibt.
  4. Etwas überraschend kommt dann ein schon fast youeuristisches Element mit ins Spiel, nämlich der „wollüstige“, also lustbetonte Übergang vom Entsetzen zur Verfluchung.
So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als toter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze.
Aber hier unterstützt sie die weltliche Gerechtigkeit nur – ihr ist noch ein weiteres Feld geöffnet. Tausend Laster, die jene ungestraft duldet, straft sie; tausend Tugenden, wovon jene schweigt, werden von der Bühne empfohlen. Hier begleitet sie die Weisheit und die Religion. Aus dieser reinen Quelle schöpft sie ihre Lehren und Muster und kleidet die strenge Pflicht in ein reizendes, lockendes Gewand. Mit welch herrlichen Empfindungen, Entschlüssen, Leidenschaften schwellt sie unsere Seele, welche göttliche Ideale stellt sie uns zur Nacheiferung aus!
In diesem Abschnitt geht es um die Wirkung des Theaters auf die Zuschauer. Die sieht er vor allem in der augenfälligen Veranschaulichung einer dramatischen Entwicklung auf der Bühne. Dabei geht es dann plötzlich gar nicht mehr nur um Gerichtsbarkeit, sondern um etwas, was die alten Griechen als Katharsis bezeichnet hätten. Bei Schiller steht die Verbindung von Pflicht und ihrer motivierenden Präsentation im Vordergrund. Die hat dann schon fast religiöse Auswirkungen, besonders im Hinblick auf eine ethische Grundhaltung.
[…]
Nicht bloß auf Menschen und Menschencharakter, auch auf Schicksale macht uns die Schaubühne aufmerksam und lehrt uns die große Kunst, sie zu ertragen.
Als neuer Aspekt kommt jetzt die Erweiterung des Blickes in Richtung „Schicksal“ zum Tragen. Es geht also um große Zusammenhänge, die man nicht mehr beeinflussen, sondern nur noch „ertragen“ kann. Hier fragt man sich als Leser, was Schiller genau damit meint und wie weit die Geduld mit dem Schicksal für ihn geht.
[…]
Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird.
Noch einmal wird zusammenfassend hervorgehoben, welch umfassende, die Extreme umspannende positive Wirkung das Theater hat.
Wenn Gram an dem Herzen nagt,
wenn trübe Laune unsere einsamen Stunden vergiftet,
wenn uns Welt und Geschäfte anekeln,
wenn tausend Lasten unsre Seele drücken und unsre Reizbarkeit unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht,
so empfängt uns die Bühne – in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wieder gegeben, unsre Empfindung erwacht, heilsame Leidenschaften erschüttern unsre schlummernde Natur und treiben das Blut in frischeren Wallungen.
Der Unglückliche weint hier mit fremdem Kummer seinen eignen aus –
der Glückliche wird nüchtern und der Sichere besorgt.
Der empfindsame Weichling härtet sich zum Manne,
der rohe Unmensch fängt hier zum erstenmal zu empfinden an.
Vier Fälle des Unglücklichseins werden vorgestellt, um dann die heilsame Wirkung des Theaters auf den Menschen noch einmal in sehr anschaulichen Wendungen zu präsentieren, die dann auch noch an komplementären Fällen veranschaulicht werden.
Und dann endlich – welch ein Triumph für dich, Natur! – so oft zu Boden getretene, so oft wieder auferstehende Natur! – wenn Menschen aus allen Kreisen und Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein.
Der Schluss dieses Redeausschnittes schwingt sich dann zu einer Hymne der Mit-Menschlichkeit auf, die stark an das „Seid umschlungen, Millionen“ erinnert, das Schiller in seinem Lobpreis „An die Freude“ gestaltet hat. 
 
Bleibt abschließend die Frage, wie realistisch das alles ist und ob es nicht viel von einem „Sich-aus-der-Welt-Hinausträumen“ hat. Aber zum einen gilt auch hier der provozierende und auf jeden Fall anregende Satz: „Wer nicht träumen kann, ist kein Realist“. Zum anderen dürften die meisten Menschen schon mal gemerkt haben, dass Kunst in vielfältigen Formen nicht nur den Blick schärfen, sondern auch Kraft geben kann. Wenn es anders wäre, würden nicht alle Hilfsorganisationen auf ihre Weise und mit ihren Mitteln etwas davon für gute Zwecke einsetzen und diese auch im Rahmen des Möglichen erreichen.
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aus: Friedrich Schiller, Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet (1784)
Schließen wir das mit ein paar Überlegungen zur Relevanz des Textes für uns heute:
Auf das moralische Potenzial, das in der Kunst liegen kann, sind wir schon eingegangen. Inwieweit heutige Kunst dem immer dient oder auch nur dienen will, muss sicher differenziert betrachtet werden. Schiller würde wahrscheinlich fassungslos den Kopf schütteln, wenn ihm ein Theaterstück präsentiert würde, das dem Zuschauer nicht viel mehr zu bieten scheint als das Innenleben des Regisseurs.
Wenn jetzt jemand sagt: Ja, die Verhältnisse sind ja heute auch nicht positiv. Dann sollte man sich daran erinnern, wie es zur Zeit Schillers in Deutschland aussah. Diese Erklärung dürfte wohl entfallen.
Aber denken wir darüber gar nicht mehr lange nach, sondern fordern von der Kunst das ein, was Schiller uns in seiner Rede verspricht – und wenn sie das nicht bieten will, dann lassen wir sie einfach links liegen und konzentrieren uns auf das, was uns weiterbringt beim Aufstieg auf die „Pyramide unseres Daseins“.
Abschließend ein kleines Schaubild, das den Kern von Schillers Position deutlich macht: