Heinrich Heine, Die Wallfahrt nach Kevlaar – eine religionskritische Ballade (Mat4953)

Worum es hier geht:

Heinrich Heine stand der Religion ja ziemlich kritisch gegenüber.

Das wird auch in diesem  Gedicht deutlich.

Das Gedicht ist u.a. hier zu finden.

Näheres zur Wallfahrt findet sich hier.

Der Wallfahrtsort liegt nordwestlich von Köln, die Strecke beträgt etwa 120 km.

Die Wallfahrt nach Kevlaar

  • Die Überschrift deutet an, dass es um eine religiöse Veranstaltung geht, bei der katholische Christen gemeinsam zu einem Ort gehen oder fahren, der für ihren Glauben bedeutsam ist.
  • Wenn man sich ein bisschen bei Heine auskennt, geht man erst mal davon aus, dass der Dichter mit dem Phänomen wohl eher kritisch umgeht.

1

Am Fenster stand die Mutter,
Im Bette lag der Sohn.
»Willst du nicht aufstehn, Wilhelm,
Zu schaun die Prozession?«

  • Das Gedicht beginnt mit der wahrscheinlich mahnenden Frage der Mutter an ihren Sohn Wilhelm, ob der nicht langsam aufstehen wolle, um die Prozession zu sehen.

»Ich bin so krank, o Mutter,
Dass ich nicht hör und seh;
Ich denk an das tote Gretchen,
Da tut das Herz mir weh.« –

  • Der Sohn verweist darauf, dass er krank sei.
  • Hintergrund ist „das tote Gretchen“.
  • Dabei bleibt erst mal offen, in welcher Beziehung zu ihm stand oder steht (Geliebte, Schwester?)

»Steh auf, wir wollen nach Kevlaar,
Nimm Buch und Rosenkranz;
Die Mutter Gottes heilt dir
Dein krankes Herze ganz.«

  • Die Mutter wiederholt jetzt ihre Aufforderung
  • Und stellt dabei einen Zusammenhang her zwischen der Wallfahrt und der Trauer-Krankheit des Sohnes.

Es flattern die Kirchenfahnen,
Es singt im Kirchenton;
Das ist zu Köllen am Rheine,
Da geht die Prozession.

  • Diese Strophe beschreibt kurz die Prozession, also die mehr oder weniger lange Menschenschlange, die im Rahmen der Wallfahrt unterwegs ist.
  • Jetzt wird auch der Ort genannt, nämlich Köln am Rhein.

Die Mutter folgt der Menge,
Den Sohn, den führet sie,
Sie singen beide im Chore:
Gelobt seist du Marie!

  • Hier wird deutlich, dass die Mutter etwas Distanz hält zu den anderen.
  • Sie scheint damit beschäftigt zu sein, den Sohn auf Kurs zu halten.
  • Auf jeden Fall singen sie beide ein zur Wallfahrt passendes Lied.

2

Die Mutter Gottes zu Kevlaar
Trägt heut ihr bestes Kleid;
Heut hat sie viel zu schaffen,
Es kommen viel kranke Leut.

  • In dieser Strophe geht es um das Bild Marias, die in katholischen Kreisen als Mutter Gottes (Jesu) verehrt wird.
  • Hier hat man erstmals das Gefühl des typischen Heine-Tons.
  • Er verweist nämlich auf ihre Kleidung
  • Und tut auch sonst so, als wäre sie eine Art menschlicher Arzt, der an diesem Tag viele Patienten behandeln muss.

Die kranken Leute bringen
Ihr dar, als Opferspend,
Aus Wachs gebildete Glieder,
Viel wächserne Füß und Händ.

  • Die ironische Tendenz setzt sich hier fort.
  • Es ist nämlich nicht nur von Opfern die Rede,
  • Sondern diese werden nicht gerade im Sinne von Gesundheit dargestellt:
    Im Angebot sind gewissermaßen nur nachgebildete künstliche Glieder aus Wachs.

Und wer eine Wachshand opfert,
Dem heilt an der Hand die Wund;
Und wer einen Wachsfuß opfert,
Dem wird der Fuß gesund.

  • In dieser Strophe wird ein direkter Zusammenhang zwischen Opfer und Heilung beschrieben.
  • Die Automatik erinnert ein bisschen an Johann Tetzel, dem der Satz zugeschrieben wird:
    „„Sobald der Gülden [Gulden = Münze] ]im Becken [ein Kupferkasten] klingt im huy [ganz schnell] die Seel im Himmel springt“
    https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Tetzel

Nach Kevlaar ging mancher auf Krücken,
Der jetzo tanzt auf dem Seil,
Gar mancher spielt jetzt die Bratsche,
Dem dort kein Finger war heil.

  • In dieser Strophe werden die Heilungen auf einem sehr hohen Niveau beschrieben.
  • Die alte körperliche Einschränkung ist nicht nur überwunden, sondern hinterher scheint man auch mehr zu können als zuvor.

Die Mutter nahm ein Wachslicht,
Und bildete draus ein Herz.
»Bring das der Mutter Gottes,
Dann heilt sie deinen Schmerz.«

  • In dieser Strophe wählt die Mutter jetzt eine Heilungsvariante,
  • Die genau der Krankheit des Sohnes entsprechen soll.

Der Sohn nahm seufzend das Wachsherz,
Ging seufzend zum Heilgenbild;
Die Träne quillt aus dem Auge,
Das Wort aus dem Herzen quillt:

  • Der Sohn bringt sich jetzt auch voll ein.
  • Deutlich werden noch mal seine Trauer und sein Schmerz um die am Anfang genannte Tote.

»Du hochgebenedeite,
Du reine Gottesmagd,
Du Königin des Himmels,
Dir sei mein Leid geklagt!

  • Hier wird ein entsprechendes Gebet präsentiert.
  • In ihm klagt der Sohn noch mal sein Leid.
  • Dabei wird ein altes Wort verwendet, das soviel wie „gesegnet“ heißt:
    https://de.wiktionary.org/wiki/gebenedeit

Ich wohnte mit meiner Mutter
Zu Köllen in der Stadt,
Der Stadt, die viele hundert
Kapellen und Kirchen hat.

  • Der Sohn nimmt jetzt die Geschichte seines Schmerzes in das Gebet auf.
  • Dabei beschreibt er zunächst seine Heimatstadt.

Und neben uns wohnte Gretchen,
Doch die ist tot jetzund –
Marie, dir bring ich ein Wachsherz,
Heil du meine Herzenswund.

  • Als nächstes geht es dann um dieses Gretchen.
  • Man kann hier eine Liebesbeziehung vermuten.

Heil du mein krankes Herze –
Ich will auch spät und früh
Inbrünstiglich beten und singen:
Gelobt seist du, Marie!«

  • Es folgt noch mal die Bitte um Heilung des Herzens.
  • Verbunden wird sie mit dem Versprechen, intensiv Marienverehrung durch Beten und Singen zu betreiben.

3

Der kranke Sohn und die Mutter,
Die schliefen im Kämmerlein;
Da kam die Mutter Gottes
Ganz leise geschlichen herein.

  • Jetzt kommt eine Wendung raus aus der überdeutlichen religiösen Normalität.
  • Denn es erfolgt der Hinweis, dass die „Mutter Gottes“ nachts direkt zu dem herzenskranken Jungen geschlichen komme.

Sie beugte sich über den Kranken,
Und legte ihre Hand
Ganz leise auf sein Herze,
Und lächelte mild und schwand.

  • Die erhoffte Handlung erfolgt erstaunlicherweise im heimischen Schlafzimmer statt am Zielort der Wallfahrt.

Die Mutter schaut alles im Traume,
Und hat noch mehr geschaut;
Sie erwachte aus dem Schlummer,
Die Hunde bellten so laut.

  • Das Gedicht wendet sich nun der Mutter zu.
  • Sie hat alles im Traum mitbekommen.
  • Jetzt wacht sie auf – erstaunlicherweise wegen Hundegebell.
  • Das verstärkt noch mal das Bemühen des Gedichtes, diesen seltsamen Besuch als real zu beschreiben.

Da lag dahingestrecket
Ihr Sohn, und der war tot;
Es spielt auf den bleichen Wangen
Das lichte Morgenrot.

  • Nun die überraschende Wendung:
  • Die Heilung erfolgte durch Nachsterben des Sohnes.
  • Er ist der toten Geliebten gefolgt.

Die Mutter faltet die Hände,
Ihr war, sie wußte nicht wie;
Andächtig sang sie leise:
Gelobt seist du, Marie!

  • Das Gedicht tut jetzt so, als wäre die Mutter darüber glücklich
  • Und würde das als die erhoffte Beseitigung des Schmerzes verstehen.
  • Am Ende steht ein Lobgesang auf Maria, die dieses Wunder vollbracht haben soll.

Zusammenfassung:

  1. Heine präsentiert hier in einem zum Teil lockeren, zum Teil sehr sachlich klingenden Ton ein ungeheures Geschehen.
  2. Damit ist aber nicht so sehr der Tod des Sohnes gemeint.
  3. Vielmehr liegt die Ungeheuerlichkeit in der Reaktion der Mutter.
  4. Die scheint dieser Maria noch dankbar zu sein, dass ihr Sohn auf diese Art und Weise von seinem Schmerz geheilt oder besser: „befreit“ worden ist.
  5. Insgesamt hat man den Eindruck einer sehr kritischen Haltung Heines dem Wunderbetrieb der katholischen Kirche gegenüber. Das beginnt schon bei den Wachs-Gaben und endet bei einer Lösung, die man auch durch einen Sprung ins Wasser hätte erreichen können. Viele Menschen haben sich ja so von einem Leben befreit, das sie für unerträglich hielten.

Balladencharakter

Es handelt sich ganz eindeutig um eine Ballade, denn

  1. es ist ein Gedicht,
  2. das eine Geschichte erzählt,
  3. die außerdem dramatische Züge enthält.

Kreative Anregung

  • Man könnte sich natürlich auch eine andere Lösung ausdenken.
  • Der Junge hat den Tod seiner Freundin nur behauptet.
  • In der Nacht trifft er sich heimlich mit ihr.
  • Am nächsten Morgen ist er geheilt.

Weitere Infos, Tipps und Materialien 

https://textaussage.de/weitere-infos