Worum es hier geht:
Das Gedicht „Mensch und Tier“ Christian Morgenstern wirft vielfältige Fragen auf, die das Verhältnis der Lebewesen zueinander betreffen.
Anmerkungen zu Strophe 1
- Ich war im Garten, wo sie all die Tiere
- gefangen halten; glücklich schienen viele,
- in heitern Zwingern treibend muntre Spiele,
- doch andre hatten Augen, tote, stiere.
- Im folgenden zeigen wir, welche Vorteile es hat, wenn man induktiv an die Interpretation eines Gedichtes herangeht. Das bedeutet, dass man Stück für Stück vorgeht und dabei auch die Leserlenkung berücksichtigt.
- Das Gedicht nennt im Titel zwei Arten von Lebewesen, die im allgemeinen Bewusstsein streng getrennt sind.
- Menschen werden von der Art her als etwas völlig anderes angesehen als Tiere, auch wenn sie gemeinsame Vorfahren haben.
- Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Rechte, die ihnen zugebilligt werden
- Dementsprechend kann man gespannt sein, welchen Akzent das Gedicht setzt.
- Damit ist der Vorteil des induktiven Verfahrens schon deutlich geworden:
Man denkt bei den Andeutungen in Richtung Thema an viel mehr, als das Gedicht später verwirklicht. Dann merkt man erst das Besondere an dem konkreten Text.
Anmerkungen zu Strophe 2
- Ein Silberfuchs, ein wunder zierlich Wesen,
- besah mich unbewegt mit stillen Blicken.
- Er schien so klug sich in sein Los zu schicken,
- doch konnte ich in seinem Innern lesen.
- Die zweite Strophe setzt dann einen ersten inhaltlichen Akzent, indem das Schöne an einer bestimmten Tiergattung hervorgehoben wird. Das wird dann auch noch verbunden mit einem Metall, das bei den Menschen einen besonderen Wert hat, für Schmuck steht.
- Die Zeilen 2 und 3 erwecken den Eindruck, als ob dieses Tier durchaus über menschenähnliche Fähigkeiten verfügt – bis hin zur Klugheit und einer souveränen Einschätzung des eigenen Schicksals.
- In der letzten Zeile behauptet das lyrische Ich, es könne im Inneren des Tieres lesen. Das ist eine sehr umstrittene Frage, inwieweit man sich mit einem Tier verstehen und dann vielleicht auch verständigen kann.
- Anderseits kann man die Zeile natürlich auch so verstehen, dass das lyrische Ich wie bei einem geschriebenen Text damit etwas macht, was am Ende nicht mehr identisch sein muss mit dem, was präsentiert wird. Lesen bedeutet ja immer auch interpretieren, d.h. mit dem Geschriebenen oder dem, was geboten wird, etwas anfangen.
Anmerkungen zu Strophe 3
- Und andre sah ich mit verwandten Mienen
- und andre rastlos hinter starren Gittern –
- und wunder Liebe fühlt ich mich erzittern,
- und meine Seele wurde eins mit ihnen.
- Die letzte Strophe überträgt dann das, was das lyrische Ich bei dem Silberfuchs gesehen und empfunden hat, auf die anderen Tiere
- Dabei wird auch eine zweite Tiergruppe ins Auge gefasst, die nicht so real oder scheinbar fügsam sich in sein Schicksal ergibt.
- Die letzten beiden Zeilen machen dann etwas wie Empathie mit den Tieren deutlich, was zu einer gewissen Erschütterung beim Beobachter führt.
- Am Ende findet sich dann die Gesamtaussage des Gedichtes:
- Das lyrische Ich fühlt sich eins mit diesen Tieren, sieht vielleicht auch bei sich selbst eine gewisse Gefangenschaft.
- Allerdings gilt hier die oben angesprochene Einschränkung, dass wir als Leser nicht über das Bewusstsein des lyrischen Ichs hinauskommen.
- Wir können das nur annehmen, was da an Eindrücken und Gefühlen präsentiert wird.
- In Wirklichkeit kann zumindest der Silberfuchs etwas ganz anderes denken. Vielleicht ist er ganz ruhig, will Kräfte sammeln für den ein Moment, bei dem er eine Chance sieht, in die Freiheit zu gelangen.
Zusammenfassung
- Insgesamt hat es sich wohl sehr gelohnt, sich nicht gleich dem Gesamttext auszuliefern und seiner Verführungskraft, sondern die einzelnen Zeilen wirklich abzuklopfen auf mögliche weitere Bedeutungen, die dann im Gedicht nicht unbedingt realisiert werden müssen. Sie waren halt nur „implizit“ als Potenzial da.
- Besonders deutlich wird das eben an der zentralen Figur dieses Gedichtes, am Silberfuchs und der Interpretation seines Verhaltens. Außerdem haben wir auf diese Art und Weise auch die Sicht des lyrischen Ichs auf sein Verständnis der Tiere kritisch abgeklopft.
- Auf jeden Fall ist es wichtig, über das Gedicht hinauszudenken. Dann kommt man nämlich an dem Punkt, bei dem es nicht mehr nur um Mitgefühl mit den Tieren und bestimmte Aspekte des Tierschutzes geht, sondern auch um das Selbstverständnis des Menschen. Damit kann man wieder auf den Titel zurückgreifen, der hier ja Menschen und Tiere auf die gleiche Ebene hebt und das muss ich ja nicht nur auf die Freiheit der Tiere beziehen, sondern kann den Menschen als auch ein gebundenes Wesen mit in den Blick nehmen.
Anregungen
- Wer sich ein bisschen in der Literatur auskennt, dem fällt bei diesem Gedicht natürlich sofort der sehr viel berühmtere Text von Rilke ein: „Der Panther“:
https://textaussage.de/rilke-der-panther-vergleich-wolfenstein-tucholsky - Mit diesem Gedicht hat man nun eine Basis, um auch Rilkes Gedicht jetzt mal darauf abzuklopfen, wie es dort mit der Sympathie für die Tiere und eine mögliche Übertragung der Aussage auf den Menschen aussieht.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
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