schnell durchblicken: Ernst Stadler, „Form ist Wollust“ (Mat7067)

Worum es hier geht:

Wir zeigen, wie man ein Gedicht des Expressionismus schnell und sicher interpretieren kann. In diesem Falle geht es um das Gedicht „Form ist Wollust“, in dem Ernst Stadler eine Art Programm des Expressionismus formuliert.

Das Gedicht

Ernst Stadler

Form ist Wollust

Form und Riegel mussten erst zerspringen,
Welt durch aufgeschlossne Röhren dringen:
Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen,
Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen.
Form will mich verschnüren und verengen,
Doch ich will mein Sein in alle Weiten drängen –
Form ist klare Härte ohn‘ Erbarmen,
Doch mich treibt es zu den Dumpfen, zu den Armen,
Und in grenzenlosem Michverschenken
Will mich Leben mit Erfüllung tränken.

Zunächst einmal ein paar „grafische“ Vorarbeiten:

Tipps für ein schnelles Verständnis

  1. Als erstes stellt man bereits am Titel fest, dass dieses Gedicht viel mit der Welt der Künstler und sicherlich besonders der Schriftsteller zu tun hat. Denn die Form zum Beispiel eines Gedichtes ist ja das, was ihm neben dem Inhalt einen besonderen Reiz und Ausdruck verleiht.
  2. Wenn man davon ausgeht, dass Wollust die höchste Form möglicher Lust gefühle im menschlichen Leben meint, dann hat man als Leser den Eindruck, dass in diesem Gedicht ein Loblied auf die Form, also die künstlerische Eigenart zum Beispiel von Gedichten, präsentiert wird.
  3. Umso erstaunter ist man dann in der zweiten Doppelzeile, wenn die Form jetzt weniger mit Ekstase in Verbindung gebracht wird als mit einer Art Wellness-Veranstaltung („himmlisches Genügen“, 3). Dementsprechend setzt das lyrische Ich einen anderen Akzent, es fühlt sich angetrieben, „Ackerschollen umzupflügen“ (4), also etwas in Bewegung zu setzen, tatkräftig zu sein.
  4. Die nächsten beiden Zeilen begründen dassdann etwas näher, indem für einen Dichter beziehungsweise Künstler der Form eher negative Begriffe zugeordnet werden, nämlich „verschnüren“ und „verengen“ (5) – man beachte die wiederholte negative Vorsilbe „ver“. Dem entgegen gesetzt wird dann eine fast schon romantische Sehnsucht nach Weite (6).
  5. Die nächsten beiden Zeilen (7/8) bringen dann plötzlich eine Art soziales Gefühl in das Gedicht hinein. Man könnte sich vorstellen, dass das lyrische Ich hier eine Art kulturelle Elite kritisiert, die Kunst mehr in einer abgehobenen Form erwartet, während der Dichter in diesem Gedicht sich auch an die „Dumpfen“, die „Armen“ (8), die einfachen Menschen verschenken will.
  6. Dieser Gedanke spielt dann eine entscheidende Rolle in den beiden Schlusszeilen, wobei zum ersten Mal eine äußere Instanz, nämlich das Leben selbst, mit hereinkommt. Es schenkt dem Dichter Erfüllung, wenn er sich eben verschenkt, d.h. nicht für sich selbst und seine Kunstkollegen schreibt, sondern für ein (auch einfaches) Publikum.
  7. Fassen wir zusammen: Offensichtlich gibt es zwei Arten von Kunst, eine, die sich vor allem auf die Form, das Äußere, die Gestaltung von Literatur konzentriert. Die wird im Verlaufe des Gedichtes immer negativer begriffen. Daneben gibt es eine, die fast schon wie in der Zeit des Sturm und Drang voll auf das Genie setzt, das seinen künstlerischen Acker selbst gestalten will.
  8. Das Besondere ist nun, dass dabei das Publikum einen hohen Stellenwert bekommt. Das lyrische Ich geht anscheinend davon aus, dass es auch den einfachen Menschen, für die ist schreibt, vor allem darauf ankommt, in der Literatur neue Spielräume zu bekommen, ins Weite vorzustoßen, die Grenzen des Lebens zumindest kurzzeitig ausblenden zu können.
  9. Nicht vergessen werden sollte der Schluss, bei dem das Leben zu einer fast schon göttlichen Instanz gemacht wird, die dem Dichter, der sich großzügig verhält, dafür auch etwas zurückgibt, nämlich vollkommene Erfüllung schenkt.
  10. Für eine Abiturprüfung ist dieses Gedicht besonders interessant, weil es den Gedanken der Sehnsucht, der Entgrenzung aufnimmt und damit eine Beziehung zur Romantik herstellt.

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