Wie schreibt man einen Essay? Eine große Herausforderung und ein kleines Mutmach-Beispiel (Mat4784)

Worum es hier geht:

Da geht es nämlich zum einen um möglichst originelle Gedanken – und zum anderen um ihre optimal ansprechende Darstellung.

Das heißt: Der Leser will nicht nur in der Sache klüger werden, er will das auch genießen.
Wir versuchen das mal hier an einem Beispiel durchzuspielen.

Dabei wählen wir den Themenbereich „Literatur im Deutschunterricht“ und wenden uns gegen etwas, was wir „Epochitis“ nennen.

​Am Anfang war der Ärger – so könnte unsere Beschreibung des Weges zu dem folgenden kleinen Essay-Versuch überschrieben werden. Da werden viele Schüler im Deutschunterricht eher abgeschreckt, weil es weniger um schöne Texte als um deren Drumherum geht.

Wir beschreiben das hier noch weiter – aber erst mal ist die Vorbereitung des Mittagsessens angesagt, aber wir haben hier schon mal unseren aktuellen Manuskript-Stand hineinkopiert. Noch vorhandene Fehler bitten wir zu verzeihen.

  1. Ein Grundfehler des Umgangs mit Literatur ist der vorschnelle Versuch, zum Beispiel ein Gedicht aus seiner Zeit heraus zu verstehen.
    Wohlgemerkt “vorschnell” – darauf kommen wir später noch mal zurück!
    Angaben zum Epochen-Kontext schaffen nur Vor-Urteile:
    Weil das Gedicht aus der Romantik stammt, muss es auch “so sein”.

  2. Das zweite Problem: Literarische Texte werden so zu “Quellen” – wie im Geschichtsunterricht, die haben aber die Funktion, über die Vergangenheit aufzuklären, diese Funktion hat Literatur nicht.
    Sie will etwas schaffen, was es so in der Welt nicht gibt, ein Spiel der Phantasie, das beim Leser wiederum etwas auslöst.

  3. Dazu zwei Beispiele: Zum einen
    Da geht man durch den Wald und findet dort ein Gedicht, eingeritzt in einem Baum Weder ist klar, wann das geschrieben worden ist, noch weiß man, wer der Verfasser ist. Und dennoch kann dieses Gedicht seine volle ästhetische Funktion ausüben. Konkret heißt das: Es berührt uns, regt uns an, hilft uns in unserem Liebeskummer o.ä.

  4. Natürlich kann man im Geschichtsunterricht ein Gedicht aus dem Mittelalter verwenden, in dem zum Beispiel spanische Seeleute ihre Angst vor dem Absturz vom Rande des Ozeans im Westen beschreiben. Dann beginnen die typisch historischen Fragen: Wann, von wem, in welcher Situation, ist es typisch für das Denken der Zeit?

  5. Ein literarischer Leser geht damit ganz anders um: Ihm ist es egal, wann das von wem geschrieben wurde. Er staunt erst mal über die Ängste damals – es berührt ihn, ärgert ihn, macht ihn vielleicht aber auch nachdenklich: Gibt es solche Ängste heute auch noch? Dann fallen dem Leser Situationen ein, in denen er nur noch einen solchen Absturz fürchtete und dann positiv überrascht wurde- so wie Kolumbus im Jahre 1492.
    Ein Beispiel könnte eine Prüfung sein oder er Wechsel der Klasse oder ein neuer Chef später im Beruf.

  6. Deutlich wird hier also etwas, was für Schule sehr wichtig ist: Statt den Deutschunterricht zwanghaft zum Geschichtsunterricht zu machen, sollte man sich lieber auf Literatur einlassen, sie aber auch an sich als Leser heranlassen, indem man sie auf sich bezieht. Literaturunterricht hat mehr mit dem Kunstunterricht zu tun als mit dem Geschichtsunterricht.

  7. Eigentlich müsste der intensive Umgang mit Literatur aus dem Deutschunterricht herausgelöst und zu einem eigenen Fach gemacht werden.

  8. Soll man sich also gar nicht mit dem geschichtlichen Umfeld von Gedichten beschäftigen? Mit der Epoche?
    Gerne, aber erst im zweiten Schritt und es hat mit Literatur eigentlich nicht mehr viel zu tun. Ab ins Fach Kulturgeschichte, da kann es dann auch gut mit anderen Disziplinen zusammenwirken, die in ihrer Gesamtheit ein Bild der Epoche ergeben: Malerei, Architektur, Musik u.a.

  9. Dann gibt es natürlich auch ein paar Schüler, die später Germanistik studieren wollen – die brauchen natürlich spezielle Einsichten in den professionellen Umgang mit Literatur – wie er eben an der Uni betrieben wird. Aber Schüler sollten nur in Wissenschaften eingeführt, nicht von ihnen gequält werden.

  10. Dann kommt es auch nicht mehr zu solch verräterischen Vorfällen, dass jemand ein Gedicht so analysiert: Das Gedicht stammt aus dem Jahr 1815, das ist die Zeit der Romantik – deshalb werde ich jetzt die entsprechenden Kennzeichen herausarbeiten. Das ist eine gefährliche Verengung der Perspektive, eben, weil man gedrillt ist auf Epochenkennzeichen.

  11. So was gibt es dann nicht mehr – dafür aber vielleicht mehr Schüler, die Lust auf Gedichte haben – und denen dasselbe passiert ist wie dem Verfasser dieses Artikels: Als er alle Geschichten Kafkas gelesen hatte, geschah etwas ganz Seltsames: Er stellte fest, dass er sie verstanden hatte. Seitdem hatte er keine Angst mehr vor diesen recht fremdartigen Texten, dafür aber viel Achtung vor dem Autor und seiner Phantasie.
    Und manchmal fing er an, in seinem Stil zu schreiben.

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