Schnell durchblicken: Lichtenstein, Die Dämmerung (Mat4717)

Worum es hier geht: 

Lichtenstein Gedicht „Die Dämmerung“ hat viel Ähnlichkeit mit „Weltende“ von Jakob van Hoddis. Auch hier werden scheinbar zufällig Beobachtungen und Eindrücke aneinandergereiht – allerdings mit nicht ganz so extremer Katastrophen-Perspektiven.

Wir zeigen, wie man ein solches Gedicht ganz einfach und sicher interpretieren kann.

Alfred Lichtenstein

Die Dämmerung

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

Erste Beobachtungen und Anmerkungen:

  1. Grundsätzlich ist es immer wichtig, mit ersten Eindrücken zu beginnen, die man später ändert oder auch nur ergänzt. In diesem Falle geht es um den Titel, den man leicht vergisst, wenn man sofort in die Strophenanalyse einsteigt.
  2. „Die Dämmerung“ – das kann am Morgen oder auch am Abend sein, es kann sich nur auf die Tageszeit und ihre Begleiterscheinungen beziehen – es kann auch eine übertragene Bedeutung haben. Auf jeden Fall ist es eine Zeit des Übergangs.
  3. Schauen wir uns jetzt mal die Signale an, die das Gedicht im weiteren Verlauf setzt:

(1) Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.

  • Das beginnt schon mal etwas unschön, denn wer möchte als „dick“ bezeichnet werden.
  • Es folgt gleich eine erste Provokation, indem das Verb „spielen“ sehr ungewöhnlich verwendet wird.
  • Als Leser weiß man überhaupt noch nicht, in welche Richtung man das verstehen soll.
  • Auf jeden Fall tut dieser Junge etwas, was dem Teich und seinen Insassen wahrscheinlich nicht gut tut, wenn man die Beschreibung ernstnimmt.

(2) Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.

  • Das nächste Signal bestätigt, dass hier mit Bestandteilen der Landschaft nicht gut umgegangen wird.
  • Es ist zwar der Wind, der sich verfängt, aber für die Äste und Blätter dürfte das auch kein reines Vergnügen sein – es könnte da ein Kampf stattfinden.
  • Es kann aber auch sein, dass der Wind in diesem Baum „verschwindet“, d.h. abflaut.

(3) Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,

  • Auch dieses Bild ist eher negativ, „verbummelt“ könnte ja noch nett sein – aber das anschließende „bleich“ verstärkt den Eindruck des Ungesunden.

(4) Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

  • Hier wird sogar deutlich, dass es keinen guten natürlichen Ausgangszustand gab – dieser Himmel braucht von vornherein Schminke, also eine künstliche „Aufhübschung“.

(5) Auf lange Krücken schief herabgebückt

  • Die zweite Strophe wendet sich dann den Menschen zu – auch hier gibt es keinen gesunden Zustand, der wohl nicht nur einer Krankheit, sondern auch einer fehlenden oder schlechten Behandlung zuzuschreiben ist.

(6) Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.

  • Das Einzige, was den beiden Kranken bleibt, ist das „Schwatzen“ – ein Wort, das man nicht für eine Kommunikation auf hohem Niveau oder mit Tiefgang verwendet.

(7) Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.

  • Hier taucht erstmal die Welt des Dichters auf, aus nicht ganz klaren Gründen wird er als „blond“ vorgestellt, vielleicht im Sinne von „blauäugig“, also germanenhaft grad heraus, aber nicht besonders klug. Die Perspektive kann allenfalls in Richtung Verrücktheit gehen – aus welchen Gründen auch immer.

(8) Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

  • Auch hier eine verrückte Welt – denn in der traditionellen Welt reitet eine Dame allenfalls auf einem Pferd.
  • Auch hier wieder ein Signal in Richtung „malade“, krankhaft, nicht in Ordnung.

(9) An einem Fenster klebt ein fetter Mann.

  • Hier wird das Element „dick“ aus der ersten Zeile noch einmal aufgenommen und zu „fett“ verstärkt.
  • Das Verhalten bzw. die Situation des Mannes könnte im Zusammenhang mit der Zeile davor als eine Art Voyeurismus begriffen werden: Dieser Mann hat nichts zu tun und will mitbekommen, was auf der Straße so läuft, was anderen passiert.

(10) Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.

  • Hier werden sexuelle Bedürfnisse angedeutet, wie negativ der Begriff „Weib“ in diesem Gedicht zu sehen ist, bleibt offen – zusammen mit der Pferde-Damen-Zeile kommen Frauen allerdings in diesem Gedicht nicht gut weg – der männliche Teil der Menschheit aber auch nicht.

(11) Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.

  • Das Farb-Attribut soll wohl Alter signalisieren – in diesem Kontext erscheint dann das für einen Clown eigentlich nebensächliche Anziehen der Stiefel wie eine schwere Aufgabe. Auf seine eigentliche wird nicht eingegangen.

(12) Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

  • Neben Frauen und Männern kommt jetzt auch noch der Nachwuchs in den Blick – allerdings nicht direkt – der nachzuvollziehende Schrei angesichts der tristen Umgebung geht nur vom Kinderwagen aus.
  • Was die Tiere angeht, auch die scheinen unzufrieden zu sein und werden durch die Personifizierung den Menschen gleichgestellt.

Fazit in Richtung Intention (Aussage) des Gedichtes: 

Das Gedicht zeigt:

  1. eine Welt in Unordnung, sie sieht nicht gut aus.
  2. Die Menschen bewegen sich zwischen sinnlosem Spiel und Krankheit. Oder aber sie geben sich einfachen Tätigkeiten hin – ohne höhere Ziele
  3. Am Ende deutet sich das Verschwinden der Menschen an – ihre Rolle wird von Gegenständen oder auch Tieren übernommen. Es bleibt – typisch für den Expressionismus – nur ein Schrei – und der wird begleitet von Flüchen.
  4. Was die Machart des Gedichtes angeht, ist dies wohl ein ziemlich extremes Beispiel für eine gewisse Beliebigkeit, mit der Beobachtungen und Assoziationen aneinandergereiht werden.

Weitere Infos, Tipps und Materialien 

https://textaussage.de/weitere-infos