Schnellkurs Gedichtanalyse: Künstlerische Mittel – das Gedicht als Gesamtkunstwerk ernst nehmen (Mat6013)

Worum es hier geht:

Wenn es um die künstlerischen Mittel geht, die zum Beispiel in einem Gedicht die Wirkung der Aussagen (Intentionalität) verstärken, werden meistens Einzel-Phänomene gesucht wie Metaphern, Alliterationen, Klimax usw.

Das ist auch nicht verkehrt, aber nicht genug. Denn ein Gedicht ist vor allem ein Gesamtkunstwerk – und da spielen nicht nur einzelne sprachliche Mittel eine Rolle, sondern auch die rhetorische Strategie. Gemeint ist damit auch vor allem die Frage des Aufbaus, der Reihenfolge u.a.

Beispiel: Gedicht von Frank Wedekind

Wir wollen das mal an einem Gedicht von Frank Wedekind durchspielen.

In einem anderen Beitrag haben wir uns vor allem auf den Inhalt konzentriert:
https://textaussage.de/schnell-durchblicken-frank-wedekind-ilse

Hier nun also die Betrachtung vor allem als Kunstwerk.

Der Text des Gedichtes von Wedekind

Frank Wedekind

Ilse

  1. Ich war ein Kind von fünfzehn Jahren,
  2. Ein reines, unschuldsvolles Kind,
  3. Als ich zum erstenmal erfahren,
  4. Wie süß der Liebe Freuden sind.

 

  1. Er nahm mich um den Leib und lachte
  2. Und flüsterte: O welch’ ein Glück!
  3. Und dabei bog er sachte, sachte
  4. Mein Köpfchen auf das Pfühl zurück.

 

  1. Seit jenem Tag lieb’ ich sie alle,
  2. Des Lebens schönster Lenz ist mein;
  3. Und wenn ich keinem mehr gefalle,
  4. Dann will ich gern begraben sein.

 „Strategische“ Elemente im Bereich des Gedichtes als Gesamtkunstwerk

  1. Natürlich gibt es zum Beispiel das sprachliche Mittel der Umschreibung „der Liebe Freuden“ – gemeint ist hier ganz eindeutig Sex.
  2. Dann gibt es die Wiederholung des Wortes „sachte“, um diesen Aspekt des Vorgangs zu betonen.
  3. Und „Köpfchen“ ist natürlich ein Diminutiv, eine Verkleinerungsform, mit der hier eine Art Unterwerfung des Mädchens ausgedrückt wird.
  4. „Des Lebens schönster Lenz“ ist zum einen eine Metapher, denn damit ist die Jugend gemeint und nicht direkt der Frühling. Aber es steckt auch wieder eine Umschreibung darin, nämlich all das, was die Jugendzeit besonders schön erscheinen lässt.
  5. Aber mit all dem hat man eigentlich noch nicht viel erfasst, es sind wirklich Details. Wichtiger ist schon der Verzicht auf die genauere Vorstellung oder gar Beschreibung der Sexualpartner. Der erste wird einfach mit dem Personalpronomen abgehandelt („er“). Alle weiteren werden unter „sie alle“ subsumiert (zusammengefasst, eingeordnet).
  6. Noch wichtiger aber ist der Gesamtansatz des Gedichtes, die unglaubliche sprachliche Schein-Harmlosigkeit dieses Lebensberichts. Für die ersten beiden Zeilen mag das noch gerechtfertigt sein, wenn es aber am Ende um massenhaften Sex mit jedem geht, passt das wohl nicht mehr.
  7. Zu der Verharmlosung, der Ausblendung alles Negativen einer solchen Existenz kommt natürlich die bewusste Provokation, ein Leben, das in der Zeit der Entstehung weit jenseits des Randes der Gesellschaft stattfand, so unmittelbar zu präsentieren, wenn auch zum Teil nur in Andeutungen.
  8. Zu diesem Punkt gehört allerdings auch die versteckte Botschaft, dass Frauen genauso intensiv und auch exzessiv körperliche Liebe empfinden und gestalten können wie die Männer. Denen wurde das ja immer zugestanden, sie mussten und durften sich „die Hörner abstoßen“, für eine Frau bedeutete aber eine Liebeserfahrung außerhalb der Ehe die maximale Katastrophe, der Schritt in die Nicht-Ehrbarkeit – mit entsprechendem Ausschluss aus der Gesellschaft.
  9. Rhetorisch bedeutsam ist natürlich auch die Sonderstellung der letzten beiden Zeilen, in der das lyrische Ich sich auf die Frage reduziert, ob und wie lange man anderen gefällt. Letztlich ungeheuerlich ist die Feststellung, dass das Leben dann eigentlich keinen Sinn mehr hat und im Grab enden kann.
  10. Insgesamt dürfte deutlich geworden sein, dass gerade die Bündelung der Signale in Richtung Aussagen bzw. Intentionalität auch eine Bündelung oder sagen wir besser: Konzentration auf die großen Mittel der Darstellung erfordert.

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