Nathan III-5 Deutungshypothese (Mat 1685)

Dramenszene – Entwicklung einer Deutungshypothese: „Nathan der Weise“, III,5

 

Welche Rolle spielt eine Deutungshypothese im Dramen einer Szenenanalyse?

Zu der richtigen Analyse einer Dramenszene gehört eigentlich auch die Entwicklung einer Deutungshypothese. Was ist darunter zu verstehen?

Wir gehen dabei wie immer vom Begriff aus:

Es geht um eine Hypothese, also eine vorläufige These, die noch bestätigt beziehungsweise überprüft werden muss.

Außerdem geht es um die Deutung der Szene. Darunter verstehen wir die Frage:
Was sind die entscheidenden Aussagen der Szene und welche Bedeutung haben sie für das gesamte Drama.

Entwicklung einer Deutungshypothese am Beispiel von Nathan III,5

Schauen uns das am Beispiel der fünften Szene des dritten Aktes von Lessings Theaterstück „Nathan der Weise“ einmal genauer an.

Wir versuchen das hier so klarzumachen, dass das auch jeder versteht, der sich in den Einzelheiten des Dramas nicht auskennt.

Infos für die, die sich in dem Stück nicht auskennen

Was man eigentlich nur wissen muss, ist das folgende:

Bei Nathan handelt es sich um einen jüdischen Handelsherrn, der als besonders weise gilt und in der Zeit der Kreuzzüge engee Bekanntschaft mit dem muslimischen  Sultan Saladin kommt, der zu der Zeit des Dramas Jerusalem und die Umgebung beherrscht.

Zu einem Problem wird diese Nähe zum muslimischen Sultan, weil dessen Schwester ganz gerne die Finanzprobleme des Monarchen mit Hilfe des Geldes des reichen Juden Nathan beheben möchte. Deshalb hat sie sich etwas ausgedacht, um ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Man kann also durchaus von einer Situation ausgehen, in der jemandem eine Falle gestellt wird.

Besonders bekannt geworden ist Lessings Drama durch die so genannte Ringparabel, die auch in der vorliegenden Szene eine Rolle spielt.

Voraussetzungen der Szene

Nur kurz sei drauf hingewiesen, dass die Bedeutung einer Szene natürlich auch etwas mit dem zu tun hat, was davor geschehen ist.

In diesem Falle geht es um die Finanznot des Sultans, die Weigerung seines Finanzverwalters, den reichen Juden Aaron gewissermaßen auszunutzen, und nun die Frage, wie man am besten an ihn und wohl auch sein Vermögen rankommt. Hier hat die Schwester des Sultans in II,3 davor schon ziemlich deutliche Töne angeschlagen:

  • So fragt Sittah ihren Bruder, den Sultan, ob das schnelle Verschwinden des Finanzverwalters ein Zeichen dafür sei, dass er sie im Hinblick auf den jüdischen Handelsherrn und sein Geld „betrügen“ wolle.
  • Das endet schließlich in der klaren Ansage, dass sie an den Reichtum Nathans heran will und dass sie auch bereit ist, dabei eine „Schwäche“ von ihm auszunutzen, ja sogar einen „Anschlag“ auf ihn vor hat.
  • Gemeint ist damit wohl die verfängliche Frage, die der Sultan schließlich dem Nathan – wenn auch etwas widerwillig stellt, nämlich welche der drei Religionen die wahre sei.

 

Dramatische Entwicklung der Szene

Gehen wir im fogenden mal die dramatische Entwicklung in der Szene durch und achten dabei jeweils schon mal auf Elemente, die für die Gesamtaussagen dieser Szene und damit für ihre Deutung eine Rolle spielen könnte:

Wer gerade keine Textausgabe von Lessings Drama zur Hand hat, kann die komplette Szene hier nachlesen:

http://www.zeno.org/Literatur/M/Lessing,+Gotthold+Ephraim/Dramen/Nathan+der+Weise/3.+Akt/5.+Auftritt

  1. Zu Beginn des Seele ermuntert Saladin Nathan, ohne Furcht näher zu treten.
  2. Dann möchte der Sultan gerne wissen, warum man Nathan als den Weisen bezeichnet.
  3. Ab Zeile 1820 sagt der Sultan dann ganz deutlich: „Lass uns zur Sache kommen“ und er fordert dann Nathan auch gleich noch auf, aufrichtig zu sein.
  4. Nathan erwartet zunächst, dass es um einen kaufmännischen Handel geht, doch dafür ist laut Sultan Saladin eher seine Schwester zuständig.
  5. Als Nächstes hofft Nathan, dass es um Informationen über die Feinde des Sultans geht. Hier hat er ja gegebenenfalls als Handelsreisender einiges zu bieten, aber auch daran ist der Sultan nicht interessiert.
  6. Wirklich zur Sache kommt der Herrscher dann ab 1838, und das geschieht auch kurz und knapp: er will von den Juden Nathan wissen: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz hat dir am meisten ein geleuchtet?“
  7. Kurz darauf verschärft der Sultan dann noch seine Frage durch den Hinweis: „Von diesen drei Religionen kann doch eine nur die wahre sein.“
  8. Als Grund für seine Frage gibt Saladin an, dass er sich von Nathan gerade erhofft, dass der nicht bei einer Religion bleibt, weil er in sie hineingeboren worden ist, sondern sich aus guten Gründen für eine entscheidet. Und diese Gründe möchte der Sultan gerne hören.
  9. Etwas scheinheilig erklärt der Sultan dann noch, dass er selbst nicht die Zeit habe, über diese Dinge nach zu grübeln.
  10. Und er behauptet auch, dass sie die Frage ganz im Vertrauen besprechen können (1853).
  11. Ist das in der Zeit der Kreuzzüge schon eher unwahrscheinlich, setzt Saladin noch einen drauf, indem er seine Bereitschaft erklärt, sich dem Ergebnis der Überlegungen Nathans ggf. anzuschließen, also ggf. die Religion zu wechseln.
  12. Als er sieht, dass Nathan verständlicherweise zögert, gibt er ihm Bedenkzeit.

Herausarbeitung einer Deutungshypothese

Da die Deutungshypothese die Intention, die Aussage der Szene einschließt, kann man den gleichen sprachlichen Trick verwenden, der auch dort funktioniert. Man setzt einfach den folgenden Satz fort:

Die Szene zeigt bzw. macht deutlich,

  1. dass Nathans Beiname und guter Ruf als Weiser vom Sultan genutzt wird, um eine der schwierigsten Fragen der Zeit, aber auch der Welt bis heute zu klären: Was ist die richtige Religion?
  2. Der Sultan geht dabei ganz selbstverständlich davon aus, dass nur eine der drei Religionen die wahre sein kann.
  3. Wenn man den Kontext heranzieht (Finanznöte) und auch einige offensichtlich fragwürdigen Einlassungen des Sultans berücksichtigt, dann zeigt die Szene natürlich auch, dass Nathan hier auf die Probe gestellt werden soll.
  4. Inwieweit ihn das in Gefahr bringen kann, bleibt erst mal offen. Nathans vorsichtige Reaktion zeigt aber, dass ihm das bewusst ist.
  5. Wenn man nun die Szene über die engere dramatische Situation hinaus „deuten“ will, kann man sicher einen Bezug zur Aufklärung herstellen. Denn der Sultan beginnt ja mit der Frage, welche Religion Nathan am meisten „eingeleuchtet“ hat (1841) – und das ist ja schon eine direkte Anspielung des Dramas auf die Aufklärung.
  6. Ebenso gehört zur Aufklärung, dass man sich löst von der Tradition, also dem, was einem nur mitgegeben worden ist, und sich stattdessen dem zuwendet, was einem aus „Einsicht“ (1848), „aus Gründen“ einleuchtet und eine „Wahl des Bessern“ bedeutet.

Nachtrag: Zum Verhältnis von Deutungshypothese und Deutungsthese

Wer sich jetzt fragt, was denn an dieser hoffentlich recht überzeugenden „Deutungshypothese“ noch „Hypothese“ ist, dem kann vielleicht der folgende Hinweis weiterhelfen:

Es gibt zwei Möglichkeiten:

1. Entweder ist man ganz ehrlich und formuliert zu Beginn der Analyse nach erstem Durchlesen der Szene und Durchdenken der Aufgabe wirklich eine vorläufige „Deutungshypothese“, die man dann am Ende in eine optimale Beschreibung der Intention und der Bedeutung der Szene enden lässt.

2. Oder aber: Man stellt die Deutungshypothese voran – und bestätigt sie dann für den Leser im Verlauf der Analyse, ggf. mit leichten Präzisierungen.

Weitere Infos, Tipps und Materialien

https://textaussage.de/weitere-infos