Warum ist „Woyzeck“ aktueller als „Effi Briest“? (Mat1538)

Eine Aufgabe der besonderen Art im mündlichen Abitur

  1. Stellen wir uns mal vor, bei der Vorbereitung zum Abitur ist nicht nur Büchners Woyzeck gelesen worden, sondern man hat sich im Rahmen der Besprechung der deutschen Literaturgeschichte auch mit Fontanes Roman „Effi Briest“ beschäftigt.
  2. In beiden Werken geht es um Untreue und es stirbt eine Frau.
  3. Aber das reicht natürlich nicht, um die Gemeinsamkeiten hervorzuheben.
  4. Deshalb fragen wir einfach danach, was es bei dieser äußeren Gemeinsamkeit auch Unterschiedliches gibt – und zwar im Hinblick auf die Aktualität.
  5. Rein zeitlich hat Fontane da natürlich größere Chancen, denn Effi Briest erschien 1895, Büchners Woyzeck erschien zwar erst 1879, wurde aber bereits durch Büchners Tod 1837 viele Jahre früher beendet und gehört von daher in eine ganz andere Zeit.
  6. Aber Fontane hat ein Problem – er gehört zum sogenannten „Poetischen Realismus“ und dieser gewissermaßen sanfte Umgang mit trauriger Realität kommt heute nicht mehr so gut an, wenn es um ernsthafte Kunst geht.
  7. Büchners „Woyzeck“ aber ist Leiden pur, wenn man sich anschaut, was mit diesem halb verrückten oder besser wohl: ganz verrückt gewordenen, weil vielfach gequälten einfachen Soldaten geschieht.
  8. Aber wenn man sich das Dramenfragment genauer anschaut, merkt man, dass hier nicht nur eine soziale Realität in all ihrer Schrecklichkeit präsentiert wird. Dafür sind der Hauptmann und der Doktor viel zu sehr überzeichnet – überhaupt wirkt alles irgendwie nihilistisch überhöht.
  9. Aber deshalb wollen wir nicht von „nihilistischem Realismus“ sprechen, das würde dem sozialen Ansatz des Stückes nicht gerecht – und dass es keine Lösung für Woyzecks Probleme bietet, ist mehr als „nichts“, denn es geht ja gerade um eine Gesellschaft, in der Woyzeck und eigentlich auch Marie gerne ganz normal leben wollen – aber die Verhältnisse sind leider nicht so.
  10. Wir probieren also einfach mal einen anderen Begriff aus, nämlich den des „dekadenten“ und dabei zum Teil satirisch überzogenen Realismus. Denn sowohl der Hauptmann mit seinen abstrusen Existenz-Ängsten als auch der Doktor mit seinen unmenschlichen und pseudowissenschaftlichen Experimenten zeigen, was aus der westlichen Hochkultur werden kann, wenn sie gewissermaßen an ihrem Ende angelangt ist.
  11. Sie ist entstanden auf der Grundlage der Antike und hat sich dann in eine dezidiert christliche Welt hineinentwickelt und diese dann durch die Aufklärung zunehmend schlecht aussehen lassen. Und so stellen wir einfach mal die Frage, ob nicht zumindest der Hauptmann und der Doktor eigentlich postmoderne Figuren sind, denen nichts mehr gültig ist, aber alles möglich. So könnte man am Ende feststellen, dass Büchners „Woyzeck“ natürlich ein soziales Drama ist und bleibt, aber eben auch ein postmodernes, also eins, in dem die letzten Hoffnungen der westlichen Zivilisation, eben die Moderne, sich aufgelöst haben – zunächst in den Schrecknissen des Ersten Weltkrieges, dann in den Totalitarismen der Zeit danach und dann in einer Welt, die die alten Etiketten der kulturellen Schubladen noch beibehielt, aber die Schubladen sind inzwischen leer.
  12. Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Das wäre doch eine schöne Sache, wenn im Deutschunterricht auch Thesen diskutiert würden, die auf den ersten Blick zumindest ungewöhnlich aussehen. Legitimiert wäre das allein schon vom guten alten Lessing her. Der hat ja angesichts eines möglichen Angebotes, von Gott endgültige Wahrheit präsentiert zu bekommen, erschrocken darum gebeten, ihn doch lieber seinen Weg fortlaufender Erkenntnis (mit allen möglichen Zwischenstufen des Irrtums) gehen zu lassen.

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