Was man zur Epoche des Expressionismus wissen sollte:
Beschreibungen des Expressionismus gibt es viele, deshalb gehen wir hier einmal anders an die Sache heran. Wir präsentieren die wichtigsten Informationen genau so, wie man sie in einer mündlichen Prüfung oder auch in einer Klausur am besten verwenden kann.
Da wir wie die meisten Menschen ein optisches Gedächtnis haben, gehen wir außerdem von einer Art Tafelbild aus. Das hat den Vorteil, dass die Informationen nicht nur in einer gewissen Reihenfolge erscheinen, sondern auch alle einen festen Platz haben. Wenn es dann drauf ankommt, erinnert man sich viel schneller und sicherer an die wichtigsten Punkte und die Zusammenhänge.
1. Die zeitliche Einordnung
Es handelt sich um eine Literaturströmung um den Ersten Weltkrieg herum. Die Forscher sprechen auch von dem „expressionistischen Jahrzehnt“ zwischen 1910 und 1920.
2. Einordnung in die Literaturgeschichte
Seit der Zeit Goethes haben die Schriftsteller sich immer weiter vom „Idealismus“, also einer Orientierung an höheren Ideen, entfernt.
Nach Goethes Tod 1832: Vormärz – Ende der Kunstepoche:
Zuerst wandte man sich im sogenannten „Vormärz“ (vor 1848) immer mehr der sozialen Wirklichkeit zu, wandte sich gegen Leute wie den Weimarer Minister Goethe, die ihnen zu wenig auf die einfachen Menschen und ihre Nöte achteten. Ein typischer Vertreter ist Heinrich Heine, der ein „Ende der Kunstepoche“ wollte, in der man die Literatur seiner Meinung nach zu sehr für sich betrieb, das Schöne und Edle wollte und das traurig Reale ausblendete.
Nach 1848: Der „poetische Realismus“
Nach der gescheiterten Revolution von 1848 kam die Zeit des „poetischen Realismus“. Da befasste man sich schon mit der Realität, zeigte auch ihre Schattenseiten, aber möglichst noch in einer erträglichen, eben poetisch veredelten, geschönten Weise. Typisch ist die Art und Weise, wie der Dichter Fontane den Tod der Heldin des Romans „Effi Briest“ beschreibt: Sie hat viel Trauriges erlebt, hat sich und andere enttäuscht, wurde verlassen und kehrte krank zu ihren Eltern zurück. Als es dann zu Ende geht, ist keine Rede von Schmerzen oder gar Todeskampf, sie stirbt einfach so – und anschließend sprechen die Eltern ganz ruhig vor ihrem Grab miteinander.
Ab ca. 1880: Mit ungeschöntem Blick auf die Wirklichkeit: Der Naturalismus
Am besten macht man sich den Unterschied zwischen Realismus und Naturalismus klar, indem man an den Unterschied zwischen einem Gemälde und einem Foto denkt. Auch wenn der Maler sein Objekt sehr realistisch festhält, trägt das Bild immer noch seine Handschrift, Er sieht alles im Bild mit seinen Augen. Bei einem Foto ist das ganz anders. Selbst wenn die Situation gestellt ist (etwa bei einem Hochzeitsfoto) zeigt das Bild (wenn es nicht hinterher retuschiert wurde) das, was die Kamera gesehen hat – und deren Blick ist unbestechlich.
Das heißt, es kann hinterher auf dem Bild etwas zu sehen sein, was man gar nicht festhalten wollte, etwa die billige Ersatzuhr, die der Bräutigam an diesem Tag tragen musste. Oder man sieht, dass die Braut sich doch sehr anstrengt, um eine gute Figur zu machen. So etwas kann in einem Gemälde nicht passieren, denn dort erscheint nichts, was der Maler nicht drin haben wollte – er muss ja alles mit der Hand entstehen lassen. Die Kamera dagegen hält ohne Sinn und Verstand einfach das fest, was in ihren Blickwinkel gerät. Nur den kann der Fotograf bestimmen, indem er etwa Unschönes am Rande weglässt.
Ergänzung: Naturalismus als Vorstufe zum Expressionismus
- Wir verdanken es der sehr empfehlenswerten Literaturgeschichte von Wolfgang Beutin, dass wir inzwischen den Naturalismus auch als wichtige Vorstufe zum Expressionismus begreifen.
- Darauf kommt man nicht sofort, weil die expressionistischen Dichter ja nun alles andere vorhatten, als die Realität möglichst naturgetreu und ohne beigefügte Stimmungen wiederzugeben.
- Aber der Naturalismus ist eben die erste Epoche, in der nicht nur der Begriff der „Moderne“ neu gefasst wurde, sondern man sich von der Literatur her auch „mit Haut und Haaren“ den wissenschaftlichen Erkenntnissen ausliefern wollte. Sie sollten die Basis nicht nur der Erkenntnis, sondern auch des Schreibens von Literatur ein.
- Näheres ist nachzulesen in der E-Book-Fassung der Literaturgeschichte von Beutin: „Die Naturalisten als erste Generation der literarischen Moderne“ (ab Position 9906)
Um 1910: Versuch, sich in schwierigen Zeiten Luft zu verschaffen – Expressionismus
Wie immer kann man etwas nur richtig verstehen, wenn man weiß, was vorher war und was jetzt nicht mehr galt.
Interessant ist hier zunächst einmal der Vergleich mit dem Impressionismus. Der spielt zwar mehr in der Malerei eine Rolle als in der Literatur, entscheidend ist aber Folgendes: Die Impressionisten gingen von der Außenwelt aus und versuchten das darzustellen, was diese bei ihnen als Eindruck erzeugte.
Die Expressionisten drehten diesen Prozess um: Bei ihnen war das schon vorhandene Gefühl entscheidend – und dann suchten sie sich in der Außenwelt etwas, was als Bild ihre inneren Gefühle am besten ausdrückte.
Wenn es bei Jakob von Hoddis in dem Gedicht „Weltende“ heißt:
„Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei“
dann geht es nicht wirklich um diese Handwerker, sondern um die Ungeheuerlichkeit, dass die Fachleute der Menschheit, die zuständig sind für den Schutz vor Naturgewalten, schon bei der Arbeit daran abstürzen, also versagen und sogar zu Tode kommen.
Das Problem bei diesen expressionistischen Bildern ist nun, dass sie sehr individuell sind – und zum Teil auch auf Effekt hin gestaltet. Denn schon um 1900 gab es so etwas wie einen Kunstmarkt – und da geht es eben auch um Aufmerksamkeit, die man erregt. Und das kann dann schon mal dazu führen, dass dem inneren Gefühl ein bisschen Bemühen um Aufmerksamkeit beigemischt wird.
Kommen wir nun aber zu den Phänomen und Entwicklungen, die mit zum Expressionismus beitrugen.
Die Zeit davor: Glaube an technischen und sozialen Fortschritt
Das 19. Jahrhundert war eine Zeit, in der die Menschen immer optimistischer wurden. Die vielen technischen Neuerungen gaben ihm das Gefühl, dass es jetzt nur noch besser werden konnte. Das beste Beispiel dafür sind die Romane des Franzosen Jules Verne, der unter anderem die Landung auf dem Mond und sogar eine Art Atom U-Boot vorwegnahm. Alles schien möglich. Auch die Lage der einfachen Menschen wurde immer besser, die Angst vor der Revolution und die Arbeit der Gewerkschaften brachte vielfachen Fortschritt – und in Deutschland schuf sogar der Staat unter Reichskanzler Bismarck eine Sozialversicherung, die im Kern bis heute besteht.
Zunehmende Zerstörung aller Gewissheiten und Sicherheiten
Es gab aber auch Tendenzen, die den Menschen viele, wenn nicht alle Sicherheiten nahmen, sie auf ganz neue Art und Weise herausforderten.
Beispiel 1: Darwin und das Ende der Sonderstellung des Menschen
Das war zum einen die Theorie des Naturforschers Darwin, dass alles sich auf natürliche Art und Weise entsprechend den Umständen entwickelt hat und nicht in einem Schöpfungsakt durch Gott auf einen Schlag entstanden ist (Evolutionslehre). Darwin selbst sprach zwar nicht davon, aber die Vertreter der Religion erkannten durchaus, dass die Sonderstellung des Menschen auf diese Weise verloren ging. Etwas übertrieben, aber in der Provokation durchaus richtig, fassten sie Darwins Lehre in dem Schlagwort zusammen: „Der Mensch stammt vom Affen ab.“
Beispiel 2: Freud und die Infragestellung des aufgeklärten Verstandes
Dann gab es da den Psychologen Sigmund Freud, der den Menschen zeigte, dass es hinter oder unter ihrem vielgepriesenen Verstand noch die dunkle Zone des Unterbewusstseins gab, der man sich kaum entziehen kann.
Beispiel 3: Einstein oder die „Relativität“ von Raum und Zeit
Auch wenn Einsteins „Relativitätstheorie“ um den Ersten Weltkrieg herum noch nicht ganz viele Menschen erreichte – das Gefühl war schon da, dass die Welt keine große Maschine ist, die nach klaren Spielregeln sicher und berechenbar funktioniert. Gute Beispiele finden sich etwa in Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“ (1835). Dort gibt es eine Szene, in der man glaubt, dass der Boden, auf dem man steht, unsicher ist. In einer anderen merkt man, wie unsicher die Menschen sind, was die Verständigung mit anderen angeht. Schon hier scheint jeder abgeschlossen in seiner eigenen Welt zu leben.
Albert Einstein nun gibt dem Zweifel an der Sicherheit und Stabilität der uns umgebenden Welt die sichere wissenschaftliche Grundlage. Alles ist eben „relativ“, eben nicht dauerhaft stabil und überschaubar. Plötzlich gab es mit der Lichtgeschwindigkeit etwas, was der Mensch prinzipiell nicht überschreiten kann. Und wenn man von einem Punkt der Erde aus immer geradeaus in den Raum hinausfliegt, dann kommt man eines Tages von der anderen Seite zurück. Es gibt also offensichtlich höhere Dimensionen, die wir uns so wenig vorstellen können, wie eine Ameise sich wundert, die auf einem Apfel immer geradeaus läuft und dann ebenfalls an der gleichen Stelle wieder ankommt.
Und was die Zeit angeht, auch sie hängt ab von der Geschwindigkeit, mit der wir uns bewegen. Nur merken wir das bei unserer Langsamkeit nicht. Wenn aber einer von zwei Zwillingen mit sehr hoher Geschwindigkeit wegfliegt, wird er bei seiner Rückkehr einen Bruder vorfinden, der stärker gealtert ist als er selbst.
Beispiel: Massengesellschaft und moderne Großstadt
Dazu kam die Entstehung der modernen Massengesellschaft, die sich vor allem in den immer größer werdenden Städten zusammenballte. Dort gab es Zustände, die nichts mehr zu tun hatten mit der wohlgeordneten Welt des Mittelalters oder auch noch des Biedermeiers, eine Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der man sich von der Politik fernhielt und sich am liebsten in einer „Gartenlaube“ aufhielt – so der bezeichnende Titel einer Zeitschrift der Zeit..
Allen diesen neuen, bedrohlichen oder auch als Herausforderung verstandenen Tendenzen hatte der Mensch nur noch das Gefühl, seine Unsicherheit und Überforderung irgendwie hinausschreien zu müssen. Und nicht von ungefähr gibt es da das berühmte Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch, das übrigens schon 1893 gemalt wurde und sehr schön deutlich macht, wie sich die Menschen der Zeit fühlten.
Von daher ist es auch sehr gut nachvollziehbar, dass man die entsprechenden Bestrebungen oder Tendenzen in der Literatur als „Expressionismus“ bezeichnet. Das Wort bedeutet ja im ursprünglichen Sinne „Ausdruck“ – und darin steckt ja auch das Wort „Druck“, aus dem man „heraus“ will.
Es folgen zwei Bilder aus einem noch unveröffentlichten Manuskript zu den Hintergründen des Expressionismus. Wenn es dazu Fragen gibt, einfach über das Kontaktformular melden.
Ansonsten ist es vielleicht auch so schon ausreichend anregend 🙂
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