„Wilhelm Tell“ – der historische Hintergrund (Mat4846)

Worum es hier geht:

„Wilhelm Tell“ – der historische Hintergrund

Wer das Drama „Wilhelm Tell“ verstehen will, der sollte einige spezielle Dinge verstanden haben, die in der Geschichte der Schweiz eine große Rolle spielen. Wir präsentieren hier die wichtigsten Probleme und Entwicklungen und gehen dabei auch auf einige „Mythen“ ein. Es geht also um geschichtliche Vorstellungen, die nur teilweise „wahr“ sind, aber desto mehr „Bedeutung“ haben.

Anmerkungen zum Schaubild

  1. Gelb markiert sind die historischen Herausforderungen für die Schweizer.
  2. Grün markiert ist das, was für sie und ihre zunehmende Unabhängigkeit spricht.
  3. Blau markiert sind die Inhalte von Schillers Drama, die zu den historischen Ereignissen passen, sie gewissermaßen „untermalen“.

Was die Details angeht, so kann man sie der nachfolgenden Übersicht entnehmen.

Was man wissen sollte, um „Wilhelm Tell“ und seine Schweiz zu verstehen

 

  1. Was hatten die Schweizer mit dem „Reich“ am Hut?
    Die heutige Schweiz gehörte im Mittelalter zum sogenannten „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“. Das war einer der großen Staaten des Mittelalters, die aber anders als heute organisiert waren.
    „Heilig“ war dieses Reich, weil es in enger Verbindung zum Papst stand, der die meisten deutschen Könige zu Kaisern krönte.
    „Römisch“ war das Reich als Nachfolgerin des (West-)Römischen Reiches, neu gegründet 800 n. Chr. von Karl dem Großen.
    „Deutscher Nation“ war das Reich, weil die Nachfolger Karls des Großen die Macht nicht halten konnten und die Kaiserkrone ab 962 in der Hand deutscher Könige war.
  2. Warum war der Tod eines Herrschers im Mittelalter immer ein besonderes Problem?
    Während wir heute einen Staat definieren als ein Gebilde mit festen Grenzen und einer Zentralregierung in einer Hauptstadt, gab es im Mittelalter sogenannte „Personenverbandsstaaten“. Sie bestanden also aus Gebieten, die über ihre Herrscher als Personen verbunden waren.Starb ein Herrscher ohne Nachkommen, konnte es sein, dass sein Gebiet wegen irgendwelcher verwandtschaftlicher Verbindungen an ein ganz anderes Land fiel. So gab es zum Beispiel „Spanische Niederlande“ nördlich von Frankreich, weit weg vom spanischen Kernland mit der Hauptstadt Madrid. Dementsprechend gab es dann auch einige Zeit „Österreichische Niederlande“ – ebenfalls weit von Wien entfernt.Was die Schweizer anging, so hatten sie das Problem, dass die königliche Herrschaft zur Zeit von Schillers Drama immer wieder wechselte: Der eine Herrscher bestätigte ihre Rechte, der nächste stellte sie dann wieder in Frage. Dementsprechend ist der Königsmord des Parricida am Ende auch so wichtig im Stück (siehe weiter unten).
  3. Wieso hatten die Schweizer Glück mit Raum und Zeit?
    Die Schweiz hatte nun den Vorteil, dass im Mittelalter Papst und Kaiser immer wieder in Konflikt gerieten. Dementsprechend hatten die weltlichen Herrscher ein großes Interesse an der Sicherung der Alpenübergänge und gaben den Bewohnern dort die „Reichsunmittelbarkeit“, d.h. sie hatten keinen Fürsten über sich, der zwar unter dem Kaiser stand, sich mit anderen aber auch gegen ihn stellen konnte. Dementsprechend konnten die Schweizer ihr Gebiet relativ selbstständig entwickeln.
  4. Das Pech der Schweizer mit ihren östlichen Nachbarn
    Probleme entstanden, als die Zeit der großen Kaiser mit den Stauffern zu Ende ging und die Kaiserkrone in die Hände verschiedener Familien fiel. Die wichtigste war die der Habsburger, die dummerweise mit ihrem österreichischen Besitz von Osten her an das Gebiet der Schweizer heranreichte.
  5. Warum war es wichtig, was für eine Art von Vogt die Schweizer bekamen?
    Das führte dazu, dass die Habsburger immer wieder versuchten, Vögte als Kaiservertreter einzusetzen, die vor allem ihre Interessen als Österreicher vertraten und sich um alte Rechte wenig scherten.
  6. Wie präsentierten sich die Vögte zur Zeit des Dramas?
    Genau hier setzt Schillers Drama ein. Es zeigt zum einen die Übergriffe in einer Zeit zunehmender Rechtlosigkeit (Fall Baumgarten am Anfang) und die ganz offene Infragestellung alter Rechte wie im Falle des Hauses von Stauffacher. Dazu kommt die Bedrohung durch ausdrücklich so genannte „Zwingburgen“ und die Demütigung durch den Zwang, einen Hut zu grüßen.
  7. Hat es Wilhelm Tell wirklich gegeben??
    Die Figur des Wilhelm Tell ist historisch nur schwach belegt. Immerhin erscheint die Geschichte vom Apfelschuss in einer um 1470 verfassten Chronik – immerhin fast 200 Jahre, nachdem es den Fall möglicherweise wirklich gegeben hat.
  8. Ausblick: Tatsächlich gelingt es den Schweizern durch ihre innere Einigung („Rütlischwur“) und die Tapferkeit ihrer Bauernsoldaten immer wieder die Österreicher zu besiegen, so dass die Österreicher schließlich 1474/75 die Auseinandersetzungen mit den Schweizern endgültig beendete.Dazu noch zwei Anmerkungen:Was Wieso war das mit dem „Parricida“ am Schluss ein genialer Einfall Schillers?
    Was das Happy End von Schillers Drama angeht:
    Den am Ende von Schillers Drama auftauchenden „Königsmörder“ Parricida hat es wirklich gegeben. 1308 überfällt ein Johann von Schwaben seinen Onkel, König Albrecht I., nachdem dieser immer wieder gezögert hatte, seinem Neffen das ihm zustehende Erbe herauszugeben. Es ist ein äußerst geschickter Schachzug Schillers gewesen, diese spezielle Episode an den Schluss seines Dramas zu setzen. Damit wird nämlich plausibel, wieso auf die Ermordung Geßlers nicht eine erneute Bestrafung erfolgt. Außerdem erscheint Tells „Mord“ in einem besseren Licht, wenn man ihn mit dem des „Parricida“, des Vater- oder Verwandtenmörders vergleicht.

    Was bedeutet es, wenn heute jemand sagt: „Jetzt brauchen wir einen Winkelried?
    Die zweite Anmerkung betrifft die sagenhafte Figur des Schweizers Arnold Winkelried, der in der Schlacht von Sempack 1386 ein Bündel Lanzen der angreifenden österreichischen Ritter auf sich gezogen haben soll. Sein Tod öffnete den Schweizern die Gasse zum Sieg.
    Auf heutige Zeiten übertragen bedeutet die Frage nach Winkelried also: Wir brauchen jemanden, der die Feinde auf sich zieht und uns damit den Durchbruch ermöglicht. Jeder Fußball weiß, wie wichtig ein Messi oder auch Lewandowski ist. Die müssen gar nicht alle Tore selbst schießen, es reicht, wenn sie genügend Gegner auf sich ziehen.

  9. Was hat die „Schweizer Garde“ mit „Wilhelm Tell“ zu tun?
    Die militärischen Fähigkeiten der Schweizer führten dazu, dass viele von ihnen als Söldner in den Heeren fremder Fürsten dienten. Bekannt ist bis heute die Schweizer Garde des Papstes.
  10. Was wurde aus der Schweiz?
    Endgültig selbstständig wurde die Schweiz dann am Ende des 30jährigen Krieges – und für ihre Identität spielt eben dieser Wilhelm Tell eine große Rolle.
    Interessant ist das Land für andere, weil dort mehrere Sprachgemeinschaften nicht nur friedlich zusammenleben, sondern auch gemeinsam ein vorbildliches Staatswesen gestalten – u.a. mit direkter Demokratie. Das heißt: Das Volk kann immer wieder selbst entscheiden – seine Politik kann nicht so einfach in irgendwelchen Hinterzimmern gemacht werden.