Schiller, „Wilhelm Tell“: Herausarbeitung und Bewertung der Position (Meinung) von Rudenz

Klärung der Meinung bzw. Position einer Figur in einer Dramenszene

Dramen leben von Konflikten – und die zeigen sich vor allem in gegensätzlichen Meinungen zu wichtigen Fragen. Ein besonders gutes Beispiel ist die 1. Szene des II. Aktes in Schillers Theaterstück „Wilhelm Tell“.

In einem ersten Schritt zieht man alle Textstellen heraus, die für die Klärung wichtig sind.

Ggf. muss man schauen, inwieweit neben der direkten Selbst-Charakterisierung von Rudenz auch die indirekte Charakterisierung durch seinen Onkel Attinghausen von Bedeutung ist.

Denn wer immer etwas sagt, sagt damit etwas über sich aus. Es kann aber auch sein, dass ein anderer das in einer Weise kommentiert, die noch mehr über die Figur und ihre Ansichten aussagt.

Textstellen, in denen die Auffassung von Rudenz deutlich wird

Wir fügen hier die Textstellen ein und kommentieren sie. Bei einer Klassenarbeit würde man sich die Stellen einfach markieren und sich Notizen am Rand machen.

Eine wichtige Vorbemerkung zum historischen Hintergrund:

Die höchste Macht liegt beim Kaiser, aber der ist weit weg und die direkte starke Macht in der Nähe ist Österreich, dessen Herrscher wird hier als König bezeichnet.

Das Problem wird besonders groß, wenn der österreichische Herrscher gleichzeitig auch Kaiser ist und diese Doppelmacht missbraucht, um die Schweizer zu zwingen, sich Österreich anzuschließen und damit ihre Reichsfreiheit aufzugeben.

Textstelle 1: Rudenz will schnell weg, fühlt sich fremd in seiner alten Heimat

ATTINGHAUSEN.
Ich sehe dich gegürtet und gerüstet,
Du willst nach Altorf in die Herrenburg?
RUDENZ.
Ja, Oheim, und ich darf nicht länger säumen –

  • Hier wird erst mal deutlich, dass Rudenz schnell weg will – er hat ganz offensichtlich Wichtigeres vor.

ATTINGHAUSEN setzt sich.
Hast dus so eilig? Wie? Ist deiner Jugend
Die Zeit so karg gemessen, daß du sie
An deinem alten Oheim mußt ersparen?
RUDENZ.
Ich sehe, daß Ihr meiner nicht bedürft,
Ich bin ein Fremdling nur in diesem Hause.

  • Hier wird deutlich, dass Rudenz nicht nur irgendwo hin will, sondern dass er vor allem weg will – er fühlt sich als „Fremdling“ bei seinem Onkel.

Textstelle 2: Rudenz orientiert sich am Kaiser und wird damit für seinen Onkel zu einem Verräter

ATTINGHAUSEN hat ihn lange mit den Augen gemustert.
Ja leider bist dus. Leider ist die Heimat
Zur Fremde dir geworden! – Uly! Uly!
Ich kenne dich nicht mehr. In Seide prangst du,
Die Pfauenfeder trägst du stolz zur Schau,
Und schlägst den Purpurmantel um die Schultern,
Den Landmann blickst du mit Verachtung an,
Und schämst dich seiner traulichen Begrüßung.

  • Hier wird Rudenz indirekt charakterisiert. Der Onkel stimmt ihm zu, macht aber deutlich, dass dahinter aus seiner Sicht keine guten Gründe liegen.
  • Und zwar steht er mehr auf Zeichen der Macht und hält nicht viel von den Landsleuten seiner Heimat, mit denen sich sein Onkel umgibt.

RUDENZ.
Die Ehr, die ihm gebührt, geb ich ihm gern,
Das Recht, das er sich nimmt, verweigr ich ihm.

ATTINGHAUSEN.
Das ganze Land liegt unterm schweren Zorn
Des Königs – Jedes Biedermannes Herz
Ist kummervoll ob der tyrannischen Gewalt,
Die wir erdulden – Dich allein rührt nicht
Der allgemeine Schmerz – Dich siehet man
Abtrünnig von den Deinen auf der Seite
Des Landesfeindes stehen, unsrer Not
Hohnsprechend nach der leichten Freude jagen,
Und buhlen um die Fürstengunst, indes
Dein Vaterland von schwerer Geißel blutet.

  • Rudenz übt Kritik an den seiner Meinung nach übertriebenen Forderungen seiner Landsleute.
  • Der Onkel rechtfertigt das durch die herrschende Tyrannei, gegen die man sich wehren müsse.
  • Dann kommt wieder eine indirekte Charakterisierung: Rudenz wird als „abtrünnig“ angesehen und nur eigenen egoistischen Interessen verpflichtet.

RUDENZ.
Das Land ist schwer bedrängt – Warum, mein Oheim?
Wer ists, der es gestürzt in diese Not?
Es kostete ein einzig leichtes Wort,
Um augenblicks des Dranges los zu sein,
Und einen gnädgen Kaiser zu gewinnen.
Weh ihnen, die dem Volk die Augen halten,
Daß es dem wahren Besten widerstrebt.
Um eignen Vorteils willen hindern sie,
Daß die Waldstätte nicht zu Östreich schwören,
Wie ringsum alle Lande doch getan.
Wohl tut es ihnen, auf der Herrenbank
Zu sitzen mit dem Edelmann – den Kaiser
Will man zum Herrn, um keinen Herrn zu haben.

  • Rudenz kontert und schiebt die Schuld für ihr Leiden den Schweizern zu.
  • Seiner Meinung nach könnte man das schnell beenden,
  • indem man sich Österreich anschließt.
  • Sehr scharf ist dann sein Vorwurf, dass die Seite seines Onkels auch eigene Interessen verfolge.

Textstelle 3: Rudenz appeliert an den Stolz seines Onkels

ATTINGHAUSEN.
Muß ich das hören und aus deinem Munde!
RUDENZ.
Ihr habt mich aufgefodert, laßt mich enden.
– Welche Person ists, Oheim, die Ihr selbst
Hier spielt, Habt Ihr nicht höhern Stolz, als hier
Landammann oder Bannerherr zu sein
Und neben diesen Hirten zu regieren?
Wie? Ists nicht eine rühmlichere Wahl,
Zu huldigen dem königlichen Herrn,
Sich an sein glänzend Lager anzuschließen,
Als Eurer eignen Knechte Pair zu sein,
Und zu Gericht zu sitzen mit dem Bauer?

  • Rudenz versucht jetzt, aus dem Onkel herauszufragen, ob er nicht auch höhere Ziele verfolgen sollte, als hier nur eine Art kleiner Landadliger zu sein.

Textstelle 4: Der Onkel wirft ihm Verführtsein vor, Rudenz sagt offen, was ihn umtreibt

ATTINGHAUSEN.
Ach Uly! Uly! Ich erkenne sie,
Die Stimme der Verführung! Sie ergriff
Dein offnes Ohr, sie hat dein Herz vergiftet.

  • Der Onkel wirft Rudenz vor, verführt worden zu sein.

RUDENZ.
Ja, ich verberg es nicht – in tiefer Seele
Schmerzt mich der Spott der Fremdlinge, die uns
Den Baurenadel schelten – Nicht ertrag ichs,
Indes die edle Jugend rings umher
Sich Ehre sammelt unter Habsburgs Fahnen,
Auf meinem Erb hier müßig stillzuliegen,
Und bei gemeinem Tagewerk den Lenz
Des Lebens zu verlieren – Anderswo[944]
Geschehen Taten, eine Welt des Ruhms
Bewegt sich glänzend jenseits dieser Berge –
Mir rosten in der Halle Helm und Schild,
Der Kriegstrommete mutiges Getön,
Der Heroldsruf, der zum Turniere ladet,
Er dringt in diese Täler nicht herein,
Nichts als den Kuhreihn und der Herdeglocken
Einförmiges Geläut vernehm ich hier.

  • Rudenz gibt zu, dass er im Leben mehr erreichen möchte als sein Onkel

Textstelle 5: Der Onkel warnt den Neffen vor einer großen Enttäuschung und Reue

ATTINGHAUSEN.
Verblendeter, vom eiteln Glanz verführt!
Verachte dein Geburtsland! Schäme dich
Der uralt frommen Sitte deiner Väter!

  • Noch einmal warnt der Onkel den Neffen vor Verführung.

Mit heißen Tränen wirst du dich dereinst
Heimsehnen nach den väterlichen Bergen,
Und dieses Herdenreihens Melodie,
Die du in stolzem Überdruß verschmähst,
Mit Schmerzenssehnsucht wird sie dich ergreifen,
Wenn sie dir anklingt auf der fremden Erde.
O, mächtig ist der Trieb des Vaterlands!
Die fremde falsche Welt ist nicht für dich,
Dort an dem stolzen Kaiserhof bleibst du
Dir ewig fremd mit deinem treuen Herzen!
Die Welt, sie fodert andre Tugenden,
Als du in diesen Tälern dir erworben.
– Geh hin, verkaufe deine freie Seele,
Nimm Land zu Lehen, werd ein Fürstenknecht,
Da du ein Selbstherr sein kannst und ein Fürst
Auf deinem eignen Erb und freien Boden.

  • Der Onkel macht deutlich, warum er Rudenz‘ Ansicht für falsch hält.

Textstelle 6: Bitte des Onkels, Rudenz soll bleiben und sein Erbe in seinem Sinne übernehmen

Ach Uly! Uly! Bleibe bei den Deinen!
Geh nicht nach Altorf – O, verlaß sie nicht,
Die heilge Sache deines Vaterlands!
– Ich bin der Letzte meines Stamms. Mein Name
Endet mit mir. Da hängen Helm und Schild,
Die werden sie mir in das Grab mitgeben.
Und muß ich denken bei dem letzten Hauch,
Daß du mein brechend Auge nur erwartest,
Um hinzugehn vor diesen neuen Lehenhof,
Und meine edeln Güter, die ich frei
Von Gott empfing, von Östreich zu empfangen!

Textstelle 7: Rudenz hält Widerstand gegen Österreich für zwecklos

RUDENZ.
Vergebens widerstreben wir dem König,
Die Welt gehört ihm, wollen wir allein
Uns eigensinnig steifen und verstocken,
Die Länderkette ihm zu unterbrechen,
Die er gewaltig rings um uns gezogen?
Sein sind die Märkte, die Gerichte, sein
Die Kaufmannsstraßen, und das Saumroß selbst,
Das auf dem Gotthard ziehet, muß ihm zollen.
Von seinen Ländern wie mit einem Netz
Sind wir umgarnet rings und eingeschlossen.
– Wird uns das Reich beschützen? Kann es selbst
Sich schützen gegen Östreichs wachsende Gewalt?
Hilft Gott uns nicht, kein Kaiser kann uns helfen.
Was ist zu geben auf der Kaiser Wort,
Wenn sie in Geld- und Kriegesnot die Städte,
Die untern Schirm des Adlers sich geflüchtet,
Verpfänden dürfen und dem Reich veräußern?
– Nein, Oheim! Wohltat ists und weise Vorsicht,
In diesen schweren Zeiten der Parteiung
Sich anzuschließen an ein mächtig Haupt.
Die Kaiserkrone geht von Stamm zu Stamm,
Die hat für treue Dienste kein Gedächtnis,
Doch um den mächtgen Erbherrn wohl verdienen,
Heißt Saaten in die Zukunft streun.

Textstelle 8: Der Onkel macht die Gegenrechnung auf, was die Unterwerfung unter den Kaiser kostet

ATTINGHAUSEN.
Bist du so weise?
Willst heller sehn, als deine edeln Väter,
Die um der Freiheit kostbarn Edelstein
Mit Gut und Blut und Heldenkraft gestritten?
– Schiff nach Luzern hinunter, frage dort,
Wie Östreichs Herrschaft lastet auf den Ländern!
Sie werden kommen, unsre Schaf und Rinder
Zu zählen, unsre Alpen abzumessen,
Den Hochflug und das Hochgewilde bannen
In unsern freien Wäldern, ihren Schlagbaum
An unsre Brücken, unsre Tore setzen,
Mit unsrer Armut ihre Länderkäufe,
Mit unserm Blute ihre Kriege zahlen –
– Nein, wenn wir unser Blut dransetzen sollen,
So seis für uns – wohlfeiler kaufen wir
Die Freiheit als die Knechtschaft ein!

Textstelle 9: Die Frage, ob die Schweizer eine Chance haben

RUDENZ.
Was können wir,
Ein Volk der Hirten, gegen Albrechts Heere!
ATTINGHAUSEN.
Lern dieses Volk der Hirten kennen, Knabe!
Ich kenns, ich hab es angeführt in Schlachten,
Ich hab es fechten sehen bei Favenz.
Sie sollen kommen, uns ein Joch aufzwingen,
Das wir entschlossen sind, nicht zu ertragen!

Textstelle 10: Appell des Onkels, Rudenz soll bleiben, wenigstens noch einen Tag

– O lerne fühlen, welches Stamms du bist!
Wirf nicht für eiteln Glanz und Flitterschein
Die echte Perle deines Wertes hin –
Das Haupt zu heißen eines freien Volks,
Das dir aus Liebe nur sich herzlich weiht,
Das treulich zu dir steht in Kampf und Tod –
Das sei dein Stolz, des Adels rühme dich –
Die angebornen Bande knüpfe fest,
Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an,
Das halte fest mit deinem ganzen Herzen.
Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft,
Dort in der fremden Welt stehst du allein,
Ein schwankes Rohr, das jeder Sturm zerknickt.
O komm, du hast uns lang nicht mehr gesehn,
Versuchs mit uns nur einen Tag – nur heute
Geh nicht nach Altorf – Hörst du? Heute nicht,
Den einen Tag nur schenke dich den Deinen!
Er faßt seine Hand.

Textstelle 11: Der zweite Grund für Rudenz, seine Liebe zu Berta, des Onkels Warnung

RUDENZ.
Ich gab mein Wort – Laßt mich – Ich bin gebunden.
ATTINGHAUSEN läßt seine Hand los, mit Ernst.
Du bist gebunden – Ja, Unglücklicher!
Du bists, doch nicht durch Wort und Schwur,
Gebunden bist du durch der Liebe Seile!
Rudenz wendet sich weg.
– Verbirg dich, wie du willst. Das Fräulein ists,
Berta von Bruneck, die zur Herrenburg
Dich zieht, dich fesselt an des Kaisers Dienst.
Das Ritterfräulein willst du dir erwerben
Mit deinem Abfall von dem Land – Betrüg dich nicht!
Dich anzulocken zeigt man dir die Braut,
Doch deiner Unschuld ist sie nicht beschieden.

Textstelle 12: Rudenz verschwindet – Klage des Onkels über die Entwicklung

RUDENZ.
Genug hab ich gehört. Gehabt Euch wohl.
Er geht ab.
ATTINGHAUSEN.
Wahnsinnger Jüngling, bleib! – Er geht dahin!
Ich kann ihn nicht erhalten, nicht erretten –
So ist der Wolfenschießen abgefallen
Von seinem Land – so werden andre folgen,
Der fremde Zauber reißt die Jugend fort,
Gewaltsam strebend über unsre Berge.
– O unglückselge Stunde, da das Fremde
In diese still beglückten Täler kam,
Der Sitten fromme Unschuld zu zerstören!
Das Neue dringt herein mit Macht, das Alte,
Das Würdge scheidet, andre Zeiten kommen,
Es lebt ein andersdenkendes Geschlecht!
Was tu ich hier? Sie sind begraben alle,
Mit denen ich gewaltet und gelebt.
Unter der Erde schon liegt meine Zeit;
Wohl dem, der mit der neuen nicht mehr braucht zu leben!
Geht ab.

Auswertung: Die Meinung / Position von Rudenz

  1. Rudenz fühlt sich als „Fremdling“ in seiner Heimat, weil er im Gefolge des aktuellen Herrschers aus Österreich sich bewähren und Ruhm ernten will.
  2. Den Vorwurf, ein Verräter seines Volkes zu sein angesichts der Unterdrückung, weist er zurück. Er entgegnet, man müsse sich eben nur Österreich anschließen, dann sei es damit vorbei.
  3. Außerdem wirft er seinem Onkel vor, er verfolge eigene Interessen, wenn er nur dem fernen Kaiser unterstehen wolle, nicht sich aber Österreich anschließen.
  4. Das ändert er dann aber noch ab, indem er dem Onkel klarmacht, er solle auch – wie er selbst – nach einer höheren Stellung streben als nur so eine Art Oberbauer zu sein.
  5. Auf den Hinweis seines Onkels auf die Treue zur Heimat und eine Stellung beim österreichischen Herrscher nur als „Fürstenknecht“ reagiert Rudenz mit Hinweis auf die überlegene Macht des Herrschers.
  6. Am Ende wird deutlich, dass der Neffe meint, keine Wahlmöglichkeit zu haben, weil er „gebunden“ sei und zwar an die Adlige Berta aus dem Umfeld des Herrschers, die er heiraten will.
  7. Als der Onkel auch noch behauptet, die Frau sei nur eine Art Köder, ist Rudenz so verletzt, dass er hastig aufbricht.