Kommunikation in der Kurzgeschichte „Ein netter Kerl“ von Gabriele Wohmann
Eine der besten Kurzgeschichten – mit ganz großem Potenzial, was das Thema „Kommunikation“ angeht.
Wir zeigen, was sich in diesem Familiengespräch entwickelt und wie viel es mit Mobbing zu tun hat.
Umso schöner, dass am Ende das (oder in diesem Falle besser: die) Gute siegt, wenn auch nicht ohne Verletzungen.
Im Folgenden zeigen wir, dass auch epische, also erzählende Texte Passagen enthalten können, in denen Konflikte und damit auch die Bereiche Argumentation und Kommunikation eine große Rolle spielen können. Nicht von ungefähr spricht man auch von „szenischer Darstellung“ bei Abschnitten, die man leicht auf der Bühne nachspielen könnte. Diese eignen sich dann auch sehr gut für eine Gesprächsanalyse. Die wird häufig dabei sogar zum Zentrum der Analyse und Interpretation.
Erläuterung des 1. Schaubildes:
Der Hammer am Anfang
1a: Die Geschichte beginnt scheinbar positiv, denn wer lacht nicht gerne. Wenn dann dabei auch noch die Vor-Erwartung erfüllt wird, umso besser. Wenn man also den ersten Satz vor dem letzten Wort beenden würde, könnte man damit wirklich gut leben. Das letzte Wort „entsetzlich“ zerstört aber jede Möglichkeit eines positiven Eindrucks und wirkt durch diesen Gegensatz besonders stark.
Das Problem der Gesundheit
1b: Die Bemerkung der Mutter zeigt dann schon die Richtung, in die die negative Einschätzung weist. Es geht ganz offenbar um das unvorteilhafte Äußere eines Menschen und die damit verbundene Frage nach seiner Gesundheit, die eigentlich eine Feststellung ist. Dieser Mensch ist offensichtlich krank.
Versuch der Verteidigung – auch mit Körpersprache
2. Die von der Mutter angesprochene Rita, die offensichtlich eine engere Verbindung zu der Person hat, über die geredet wird, versucht die Spitze mit einer allgemeinen Bemerkung zur Frage der Gesundheit abzublocken.
Wichtig ist, dass man neben der sprachlichen Kommunikation auch die Körpersprache mit einbezieht, die hier schon gleich am Anfang eine große Rolle spielt. Wenn Rita sich mit den Händen am Sitz festhalten muss, zeigt das, wie sehr die Bemerkungen und die Frage sie getroffen haben.
Verschärfung der Attacke: „Molch“ und „Schlamm“
3. Nanni, die Hauptangreiferin, wiederholt Ihre Attacke noch einmal und präzisiert sie dann noch auf sehr unschöne Weise, indem die Person, um die es geht, mit einem „Molch“ und dann sogar mit „Schlamm“ verbunden wird. Assoziationen des Schmutzigen und Ekligen stellen sich hier unausweichlich ein.
Entlastungsversuch durch Milene
4. Eine gewisse Entlastung für Rita gibt es durch Milene, die, wenn auch zurückhaltend, deutlich macht, dass die in Rede stehende Person doch auch „was Liebes“ habe. Man merkt aber, wie sehr sie damit gegen den allgemeinen Eindruck kämpfen muss.
Fazit des ersten Teils:
insgesamt ergibt sich für den Leser der Eindruck massiver Angriffe auf jemanden, der nicht anwesend ist. Allerdings gibt es auch in dieser angespannten Situation zumindest ein bisschen Entlastung
Erläuterung des 2. Schaubildes:
Nur kurzzeitige Entlastung, dann sogar Verschärfung
5. An der Reaktion der Mutter merkt man, dass Meline zumindest ein bisschen was erreicht hat. Das geht aber dann schnell wieder in den unangenehmen Teil über, indem direkt der Angriff auf Rita unterstützt wird, was sich auch in ihrem lauten Lachen zeigt.
Weiterer Angriff Nannis – Einmischung des Erzählers
6. Nanni setzt noch eins drauf, indem sie weitere negative Äußerungen über das Äußere des abwesenden Mannes von sich gibt. Interessant sind dabei einige Anmerkungen des Erzählers, die sie als Angreiferin auch nicht gerade in einem attraktiven Zustand zeigen.
Konzentration auf die angespannte Körpersprache von Rita
7. Der nächste Abschnitt widmet sich dann mit zwei Hinweisen auf ihre Körpersprache ganz dem Leiden der angegriffenen Rita.
Zweiter Entlastungsversuch durch Milene, ansatzweise schon zurückgenommen
8. Wieder hat in diesem Abschnitt Milene das Schlusswort, die auch Positives über den Mann zu sagen weiß, Allerdings deutet sie an, dass sie mit ihrem Widerspruch nicht ganz glücklich ist : „komischerweise“.
Erläuterung des 3. Schaubildes:
Nannis Theatralik und erneuter Einsatz eines fragwürdigen Mittels
9. Jetzt steigt auch Nanni körpersprachlich ein, was aber eher theatralisch wirkt. Noch einmal wendet sie das Mittel vom Anfang an, indem sie scheinbar jemanden lobt, um das dann ins maximal Negative umzudrehen.
Rückkehr des Vaters – weitere negative Eigenschaft
10. Der nach Hause kommende Vater bringt dann wohl ungewollt einen weiteren negativen Aspekt in die Diskussion, nämlich die Ängstlichkeit des Mannes, den er wohl zur Bahn gebracht hat.
Ungeschickter Entlastungsversuch Ritas verschärft ihre Isolierung
11/12. Ritas Reaktion darauf ist gut gemeint, wirkt sich aber negativ aus, weil der Mann jetzt als Muttersöhnchen erscheint. Dies führt zu einem allgemeinen Gelächter, an dem jetzt auch Milene teilnimmt. Man hat den Eindruck, dass Rita ihre letzte Unterstützung verloren hat.
Verstärkung von Ritas Leidens – Ungeschicklichkeit im Hinblick auf Krankheit
13. Dem entspricht auch, dass sich das körperliche Leiden bei Rita verstärkt. Sie versucht aber weiter mit sachlichen Informationen die Atmosphäre des Gesprächs zu verändern. Ihr ist wohl nicht bewusst, dass sie mit dem Hinweis auf die Krankheit der Mutter eine Vermutung verstärkt, dass auch der Mann krank sein könnte.
Verstärkung des Gelächters, das für Rita eine Atempause bringt
14. Auch hierauf reagiert man mit Gelächter. Interessant ist, dass Rita die damit verbundene Unterbrechung des Gesprächs eher als einen „kleinen schwachen Frieden“ empfindet.
Wende: Mutter setzt einen Schlusspunkt – ohne Versöhnungsziel
15. Abgeschlossen wird dieser Teil dadurch, dass die Mutter sich jetzt an einen Restbestand von Verantwortung erinnert und zur Beendigung dieses Gesprächs auffordert. Etwas Versöhnliches ist damit natürlich nicht verbunden.
Erläuterung des 4. Schaubildes:
Nanni zwischen ungewollter Satire und Schlussangriff
16. Es ist sicher eine von der Figur nicht beabsichtigte Satire, wenn Nanni jetzt davon spricht, dass sie erledigt sei, während das wohl eher das Gefühl von Rita ist.
Dass sie überhaupt noch nicht fertig ist mit ihren bösartigen Angriffen auf den abwesenden Mann, zeigt sich daran, dass sie jetzt die Frage stellt, wann denn diese „große fette Qualle“ wiederkomme. Hier wird eine extreme Beleidigung wohl mit der Hoffnung verbunden, dass der Spaß, den man eben meinte zu haben, sich demnächst fortsetzen werde.
Rita ganz allein
17. Der folgende Satz macht deutlich, dass inzwischen alle auf Nannis Linie liegen und Rita wohl völlig allein ist. Sie muss jetzt versuchen, aus dieser sich abzeichnenden endgültigen Niederlage irgendwie herauszukommen.
Rita rafft sich auf und holt zum Gegenschlag aus
18. Erstaunlicherweise gelingt es ihr jetzt, die bisherige Neigung zur Sachlichkeit mit einem Gegenschlag zu verbinden, indem sie die Familie mit dem Hinweis auf ihre Verlobung mit dem Mann, der so negativ dargestellt wurde, schockiert.
Dass sich etwas fundamental geändert hat, zeigt sich an der Körpersprache: Sie hält ihren Kopf nämlich jetzt inzwischen „aufrecht“ und ist nicht mehr in der Position des Underdogs.
Rita hat die Oberhand gewonnen und bestimmt das Geschehen:
19. In die sich ausbreitende Erkenntnisstarre kann Rita sogar noch einen weiteren Gegenstoß führen, indem sie jetzt lauter lachen kann als die anderen. Am Ende dieses Abschnitts konfrontiert sie dann noch einmal alle Anwesenden mit dem neuen Sachverhalt.
Die Anderen müssen sich wieder auf zivilisiertes Verhalten besinnen
20. Der letzte Absatz dieses Abschnitts zeigt die völlige Veränderung der Machtverhältnisse. Die anderen müssen von dem hohen Ross Ihres vermeintlichen Spaßes herunter und sich wieder wie normale Menschen in einem zivilisierten Umfeld benehmen.
Erläuterung des 5. Schaubildes:
Letzter Schlag: Das Lachen wendet sich jetzt gegen seine Urheber
21. Zu Beginn des nächsten Abschnitts setzt Rita noch einen drauf, indem sie die Anderen mit dem Missverhältnis zwischen der realen Bedeutung des abwesenden Mannes und der falschen Lustigkeit des vorherigen Gesprächs konfrontiert.
Versuche der Schadensbegrenzung:
22-24: Es folgen drei Varianten von versuchter Schadensbegrenzung. Der Vater erkennt in Ritas Verlobtem zumindest das, was dann auch Titel der Kurzgeschichte geworden ist („ein netter Kerl“).
Die Mutter nähert sich neuen Einsichten auf besonders unbeholfene und schon peinliche Weise. Man merkt, wie sie sich richtig rantastet und dabei auch ziemlich lange braucht, bis sie vom „Hausgenossen“ zum „Familienmitglied“ gelangt.
Das Schlusswort hat noch einmal der Vater, der jetzt zumindest keinen üblen Eindruck mehr bei Ritas Verlobtem feststellt. Mehr als eine hier wirklich nicht passende Variante einer Art polizeilichen Führungszeugnisses ist das aber nicht.
Schlusstriumph Ritas
25. Der Schluss gehört dann der triumphierenden Perspektive Ritas, was vor allem an der Formulierung „gezähmte Lippen“ und dem Hinweis auf die „gesenkten Köpfe“ deutlich wird.
Zusammenfassende Auswertung:
Die Kurzgeschichte zeigt:
1. die Leichtfertigkeit, mit der auf zum Teil brutale Weise über einen nicht mehr Anwesenden hergezogen wird, über dessen reale Rolle man sich nicht im Klaren ist,
2. dass sich nur wenig Widerstand dagegen erhebt, der dann auch noch im Laufe des Gespräches erlischt,
3. wie sehr jemand auch körperlich leidet, der sich zumindest indirekt persönlich getroffen fühlen muss,
4. dass aber jemand auch irgendwann an den Punkt kommt, wo einem alles egal ist und man dann zum Gegenschlag ausholen kann,
5. auf wie peinliche Weise am Ende der gegenläufige gruppendynamische Prozess verläuft. Sowie man anfangs gemeinsam die Grenzen des Anstands überschritten hat, so zieht man sich jetzt auch wieder zurück.
Ideen für kreative Aufgaben:
- Besonders diese Kurzgeschichte „schreit“ regelrecht danach, zumindest ein Stück weit weitergeschrieben zu werden.
- So bieten sich etwa nachträgliche Gespräche zwischen zwei Beteiligten an: Milene etwa könnte Nanni kritisieren und sich besonders darüber beschwerden, dass sie durch sie in das Mobbing mit hineingezogen wurde.
- Die Eltern könnten hinterher noch mal über die neue Situation und die Ethik ihrer Familiengespräche reden.
- Rita könnte zum Beispiel mit ihrem Verlobten telefonieren –sicher anders als mit einer Freundin, bei der viel mehr Offenheit möglich wäre.
- Natürlich könnte man auch das Thema der Kurzgeschichte kreativ aufnehmen, indem man eine Art Parallelgeschichte schreibt.
Da sitzen oder stehen Leute zusammen – und es wird über irgend jemanden oder irgendetwas abgelästert. Parallel dazu erfahren die Leser, was im Kopf von jemandem abgeht, dem genau diese Person oder diese Sache am Herzen liegt. Am besten geht das natürlich, wenn der betroffene Gesprächsteilnehmer neu in dem Kreis ist: Man weiß also noch nicht, dass er aus einem bestimmten Ort kommt (man denke an die früheren Ostfriesenwitze), gerade diesen Sport liebt oder auf eine ganz bestimmte Art und Weise kocht.
Abschließend noch eine Anregung für Lehrer:
Die von uns ausgewählten und speziell angeordneten Schaubild-Elemente kann man natürlich auch Schülern zur Verfügung stellen. Die können dann selbst überlegen, welchen Stellenwert sie jeweils haben und wo sie dementsprechend platziert werden sollten.
Das zugehörige Video:
Auf die entsprechende Dokumentation wird im Video verwiesen.