Albert Ostermaier, „abtropfen“ – ein Gedicht, das man gut über Signalbündelung erschließen kann (Mat5860)

 

Das Gedicht beginnt mit einem Satz, der eine Voraussetzung beschreibt: Hier geht es um die Vorstellung, dass die Lippen Augen haben.

Hypothese: Es geht um eine Beziehungssituation und den Vorgang des Küssens, also einer gewissen Intimität.

Dann soll das Gegenüber „besser“ aufhören, „mich anzusehen“.

Hypothese: Das lyrische Ich empfindet diese Art des Angesehenwerdens als unangenehm. Nicht von ungefähr gehört ja zum Küssen meist auch das Schließen der Augen. Da will keiner der Partner, dass man ihm in die Nasenlöcher schaut.

Diese Vermutung wird bestätigt, wenn es anschließend heißt, das Gegenüber solle sich diese Blicke „abschminken“, „die an mir kleben bleiben“.

Hypothese: Zu der Abwehr des Schauens beim Küssen kommt die Abwehr des „Klebenbleibens“. Vielleicht ein Signal, dass das lyrische Ich keine dauernde Beziehung möchte.

Dann ein Satzabbruch: „werd ich nie“ – Bei unserer Hypothese würde das passen. Das lyrische Ich wird nie an dieser Beziehung dranbleiben.

Dann die Frage: „Was soll die Augenwischerei“ – auch das bestätigt die Hypothese: Das lyrische Ich ist der Meinung, man mache sich nur was vor, wenn man von Dauerhaftigkeit der Beziehung ausgehe.

Dann wird es noch deutlicher: „Uns bindet nur die Haut“ – also nur das Äußerliche, vielleicht der Sex.

Auch das nächste Signal passt, es geht um Erregung, von der es anscheinend genug gegeben hat oder die genügt.

Dann vielleicht ein Versuch der Abmilderung des Vorgangs: „lass mich dich trösten“ – in der Situation sicher wenig tröstlich.

Dann der brutale Schluss: Der Rückzug: „kann ich nicht“ – mit der Begründung, dass das lyrische Ich für das Weinen keine Tränen übrig habe, nur Spucke.

Das kann jemanden an ein Gedicht von Ulla Hahn erinnern, die in einem Gedicht auch so auf eine Beziehung zurückblicken lässt, dass man „mit Haut und Haaren“ verschlungen worden ist – und dann wurde man ausgespuckt.
Das Gedicht ist in dieser Sammlung zu finden:
https://deutschunterlagen.files.wordpress.com/2014/12/hahn-gedichte.pdf

Insgesamt ein Gedicht, das eine sehr ungleichgewichtige Beziehung zeigt: Das lyrische Ich will nur Körperlichkeit ohne Dauer. Das Gegenüber anscheinend mehr.

Das Besondere ist hier das Spiel mit den Augen, was wohl intensivere Wahrnehmung andeuten soll, während das Küssen eben ein rein körperlicher Vorgang ist.

Am traurigsten oder auch am ärgerlichsten ist die Unfähigkeit oder die fehlende Bereitschaft, für das Gegenüber wenigstens etwas Mitgefühl und Trost aufzubringen.

Zu all dem passt auch die Überschrift: Man lässt etwas „abtropfen“, was nicht viel wert ist, am besten gleich in den Ausguss.

Es wäre reizvoll, zu diesem Gedicht ein Gegengedicht zu schreiben, in dem das Gegenüber sich z.B. beklagt, dass das lyrische Ich mehr versprochen hat, nur um zur Ebene der Körperlichkeit vorzudringen.

Beispiel für unseren „Interpretations-Service“

Diese Interpretation wurde von uns im Rahmen unseres kostenlosen und unverbindlichen Service-Angebot erstellt.

Für uns war dabei interessant, dass unsere Methode der Signalbündelung in Verbindung mit Hypothesenbildung beim Verständnis sehr geholfen hat.

Übrigens: Bei uns läuft immer noch ein interner Wettbewerb, ob wir wirklich jedes Gedicht „knacken“ können.
Einfach uns testen – wir freuen uns über jede Herausforderung 🙂
https://textaussage.de/gedicht-interpretation-service