Anders Tivag, „Der Adler und der Rabe“ (Mat5214)

Anders Tivag

Der Adler und der Rabe

Der weise Lan-king merkte eines Morgens, dass seine Schüler sehr unruhig waren  und sich aufgeregt miteinander unterhielten. Wie es seine Art war, wies er sie nicht gleich zurecht, sondern fragte, was sie beschäftige.

Der junge Jiang nahm all seinen Mut zusammen und erklärte stockend: „Großer Meister, wir sind jetzt schon lange bei dir und haben viel gelernt. Aber wir werden älter und wollen die Zeit nutzen, um in die Welt hinauszugehen und alle deine Lehren zu verbreiten.

Lan-king fragte daraufhin: „Reicht es dir nicht, wenn du selbst weise wirst?“

Wang-Lei meldete sich nun: „Meister, du magst recht haben. Aber wir wollen hinaus in die Welt, nicht nur in Gedanken leben, sondern sie in Gefahren  und Abenteuern erproben.

Lan-king erkannte, dass er seine Schüler gehen lassen musste, er bat sie nur noch, sich die Geschichte von dem Adler und dem Raben anzuhören.

Alle nahmen eine gespannte Haltung ein – und der Meister begann:

Auf einer kleinen Insel sah ein Adler eines Tages schon aus großer Höhe einen Raben vor einer Felsspalte sitzen und friedlich vor sich hindösen. Er näherte sich ihm vorsichtig, weil er wusste, dass ein Rabe sich von großen Raubvögeln gerne fernhält.

Gefragt, warum er die ganze Zeit so sinnlos da rumsitze, antwortete der Rabe: „Ich schaue den Königen der Luft zu.“ Dem Adler gefiel diese Antwort und er fing an, von seinen Heldentaten zu erzählen oder von dem, was er dafür hielt: „Du hast recht, das so zu sehen. Kannst du dich an den Sturm erinnern, der vor kurzem tobte. Ich kämpfte mit den Mächten des Windes und besiegte sie. Und gestern noch hatte ich einen Hasen erbeutet: Es hatte einige Zeit gedauert, weil er ständig Haken schlug. Aber dann stürzte ich mich mit solcher Geschwindigkeit auf ihn, dass er keine Chance mehr hatte. Ach – und anschließend kamen zwei andere Adler und versuchten, mir meine Beute abzujagen. Nun ja, der eine verschwand schließlich jammernd mit einem angebrochenen Flügel und der andere zog daraus die richtige Lehren.

Der Rabe hatte schweigend zugehört nur hin und wieder mit dem Schnabel zustimmend genickt. Schließlich wurde es dem Adler zuviel. Er bewegte aufgeregt seine Schwingen und fragte schließlich: Und was machst du den ganzen Tag? Das muss doch langweilig sein.

Nun, meinte der Rabe: Ich kann mich an deinen Vater erinnern, der war genauso tollkühn wie du – nur leider stürzte er beim Sturzflug in diese Spalte hier. Als ich heimkam, war bereits tot – und ich konnte einige Zeit gut von ihm leben. Während der Adler betroffen dreinschaute, fuhr der Rabe fort. „Ach ja – und dein Großvater, der flog noch mal raus, während wir Raben angesichts des Sturms alle unsere sicheren Behausungen aufsuchten. Soweit ich weiß, kam er nicht wieder.

Der Adler wurde immer unruhiger. Aber der Rabe setzte noch einen drauf. Ach ja, dein Urgroßvater, der hatte das Pech, in ein Netz zu fliegen, das die Leute hier heimlich aufgestellt hatten und um das wir Raben immer einen großen Bogen machen.

Jetzt wurde es dem Adler zu viel: Und das alles hast du erlebt, ich weiß sogar von meinem Vater nur vom Hörensagen, er war schon … An dieser Stelle unterbrach er sich selbst, ihm war ein ungeheurer Gedanke gekommen:

„Du hast meinen Vater, meinen Großvater und sogar meinen Urgroßvater gekannt?“

Der Rabe machte sich auf auf, um in seiner Felsspalte zu verschwinden:
„Ja, wir erleben nicht so viel, uns reichen die Abenteuer anderer Leute.“

Lan-king überließ seine Schüler ihren Gedanken und verschwand in seinem Ruheraum.

Die Schüler verharrten in Schweigen, wie sie es nach einer Rede des Meisters gewohnt waren. Dann gingen auch sie, in tiefes Nachdenken versunken.

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