Anders Tivag, „Streben und streben lassen“ – die Offenheit von Literatur

Anders Tivag

Streben und streben lassen – Literatur zwischen zwei Extremen

Was unterscheidet eigentlich Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ von Lessings Drama „Nathan der Weise“?

Im ersteren Falle geht es um einen Pferdehändler, dem von einem Adeligen Unrecht geschieht. Alle Versuche einer Einigung auf rechtlichem Wege scheitern. Zu stark sind die Verflechtungen zwischen denen, die Ansehen und Macht haben. Das ist die Grundkonstellation – und dann hat man den Eindruck, dass Kleist die weitere Entwicklung eskalieren lässt. Kohlhaas greift zu Gewalt und die wird immer größer, je länger die Ungerechtigkeit bestehen bleibt. Schließlich liegen ganze Städte in Schutt und Asche und die Mächtigen müssen alle Kräfte zusammen nehmen und auch zu Tricks greifen, um den Aufrührer, der sein Recht selbst in die Hand genommen hat, gefangenzunehmen und schließlich abzuurteilen. Dann drängt sich noch eine zweite Geschichte in die erste hinein, bei der der Kohlhaas auf recht märchenhafte Weise in den Besitz von Kenntnissen kommt, mit denen er am Ende doch noch auf eine bestimmte Art und Weise Recht bekommt. Er muss sterben, hat aber Genugtuung bekommen.

Bei dieser Novelle hat man den Eindruck als Leser, dass Kleist eine Ausgangssituation geschaffen hat und die sich dann einfach weiter entwickeln lässt. Es wird einem keine Lehre geboten, keine Predigt gehalten, sondern man nimmt auf der Basis einer Geschichte an einer Entwicklung teil, die einem vieles klarmachen kann. Vor allem, wie gute Absichten schließlich ins Gegenteil verkehrt werden und sogar zu Terrorismus gegenüber Unschuldigen führen.

Wir wissen es nicht, aber wir können uns gut vorstellen, dass Kleist selbst von seiner Geschichte so mitgerissen worden ist, dass er am Ende nur mit Hilfe eines Kunstgriffs zu einem guten Abschluss kommen konnte.

Ganz anders sieht es bei Lessing aus. Der stößt mit seinen aufgeklärten Gedanken im Hinblick auf die Religion an Grenzen, kann sich argumentativ dazu nicht mehr äußern und kommt dann auf die Idee, zu seiner alten Bühnen-Kanzel zurückzukehren und von dort aus seine Ideen zur Religion zu äußern – im Schutz der Kunstfreiheit.

Und so entsteht das Drama „Nathan der Weise“, das von vorne bis hinten durchkonstruiert erscheint wie ein gutes Plädoyer und am Ende auf die Parabel mit den drei Ringen hinausläuft.  mit der bekannten Aussage, dass man mit ganz unterschiedlichen religiösen Überzeugungen sich nur um Gutes bemühen muss, dann wird auch alles gut.

Das ganze funktioniert aber nur, indem fast alle realen Probleme zwischen den Religionen außen vor bleiben. Zwar gibt es den Hass des Tempelherren gegenüber den Juden, doch der verschwindet schnell, wenn er in seinem Gegenüber einen guten Menschen sieht, der ihn beeindruckt. In diesem Bühnen-Kammerspiel mit ganz wenigen Figuren gibt es eben nicht die vielen anderen in der eigenen Peergroup, die weiter den tradierten Vorurteilen frönen und eine abweichende Haltung kaum dulden werden.

Und auch der Sultan ist zwar Moslem, aber wirkliche religiöse Überzeugungen scheint er nicht zu haben und um ihn herum gibt es auch keine Geistlichkeit, die in Jahrhunderte alten religiösen Überzeugungen verwurzelt ist und sie auch erhalten und weitergeben will.

Alles läuft sehr rational ab, als wäre Glaube nicht etwas anderes als Vernunft. Und so muss man am Ende feststellen: Lieber Lessing, dein Plädoyer hast du ja recht wirkungsvoll vorgetragen, aber für die Anwälte der Gegenseite hast du keinen Raum gelassen. So wird letztlich Kunstfreiheit zur Gedankenlosigkeit. Denn ein sich mit sich selbst begnügender  Gedanke ist so gut wie kein Gedanke. Wenn es um Sachlichkeit geht, muss der alten Forderung des römischen Rechts Rechnung getragen werden: Audiatur et altera pars. Zu deutsch: Man höre auch die andere Seite. Und in der Literatur können das eben, wie Kleist gezeigt hat, die Figuren sein, wenn sie in eine letztlich offene Situation gestellt werden.

Das erklärt übrigens auch, warum es nicht sinnvoll ist, einen Autor seine eigenen literarischen Texte interpretieren zu lassen. Denn entweder bleibt seine Interpretation auf der gleichen Linie wie die von vornherein angestrebte Aussage. Oder aber der Text  hat ein Eigenleben entwickeln dürfen. Und dann ist die Wahrscheinlichkeit riesengroß, dass das über den Verfasser und seine vorgefassten Meinungen hinausgewachsen ist und er möglicherweise sogar weniger sieht als viele unvoreingenommene Leser und Leserinnen.

Damit wir hier nicht falsch verstanden werden: Natürlich darf im Kleid der Literatur auch eine Meinung auf geschickte Weise vertreten werden. Das geschieht ja schon fast idealtypisch in der Parabel. Aber die bildet nur den Ausgangspunkt der Erkenntnis, ist gewissermaßen nur ein Hilfsmittel, mit dem Denkblockaden und Vorurteile überwunden werden können. Was die Sache angeht, muss dann anschließend ergebnisoffen diskutiert, argumentiert und vielleicht auch entschieden werden.

Lassen wir der Literatur also ihren spielerischen Charakter, deren Ergebnisse auch den Verfasser überraschen – und halten wir sie möglichst frei von vorgefassten Thesen.

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