Anders Tivag, „So macht man sich Freunde“ – oder die Frage: Wieviel „Betrachtung“ darf man sich als Schüli leisten?(Mat5646)

Worum es hier geht:

Wir präsentieren hier eine Kurzgeschichte, die eine Lehrkraft unter Pseudonym den Schülis eines neuen Kurses präsentiert hat, um mit ihnen über spezielle Beziehungsfragen zu sprechen. Wie Herr Tivag in einem Gespräch erklärte, kam es ihm darauf an, den Kurs zu ermutigen, ihm möglichst ungeschützt auch „die Meinung  zu sagen“.

Die Verwendung eines Pseudonyms für den Autor sollte dafür sorgen, dass diese Diskussion nicht gleich unter dem Vorbehalt eines Ernstfalls stand.

Bei dem in der Geschichte angesprochenen Gedicht handelt es sich um Novalis, „An Tieck“

An Tieck – Novalis (gedichte7.de)

Das muss man aber nicht wissen, um die Brisanz der Kurzgeschichte zu erkennen – mit hoffentlich interessanten Überlegungen zum offenen Schluss.

Wir freuen uns, dass der Autor für einige Klärungen zur Verfügung stand – siehe den unteren Teil.

Eine Audioversion der Kurzgeschichte kann man sich hier anhören oder herunterladen:
https://textaussage.de/audio5646

Nachtrag: Überarbeitete Fassung 2.0

Wir präsentieren hier eine aktualisierte Fassung der Kurzgeschichte – denn in Gesprächen mit Schülis ist deutlich geworden, dass in der 1. Fassung zu wenig auf das Gedicht und damit den mit ihm verbundenen Ärger eingegangen wurde. So konnte nicht jeder die Bedeutung des Schlusses gut verstehen.

Das ist eben der Vorteil der „Behelfsschriftstellerei“: Sie probiert etwas aus und optimiert es dann auch entsprechend den Hinweisen der Leser bzw. Zuhörer.

Anders Tivag,

So macht man sich Freunde

Als Leon auf den Vertretungsplan sah, wusste er nicht, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Geschichte fiel aus, dafür bekamen sie ihren Deutschlehrer. Aber der würde wohl wieder Reisegedichte behandeln, und da konnte man sich zumindest ein bisschen in ferne Länder wegträumen.

Es fing auch ganz gut an. In dem Gedicht, das sie bekamen, ging es um ein Kind, das in ein fremdes Land verstoßen wird.

Etwas weniger begeistert war er, als er dann mitbekam, dass dieses Kind wohl für das Neue nicht viel übrig hatte, sondern dem Alten zugewandt blieb. Na toll, dachte er. Genau das brauchen wir – noch mehr Altes in der Welt – statt neue Sachen auszuprobieren.

Dann fand das Kind auch noch ein altes Buch, das irgendwie mit Gold verschlossen ist. Kurze Zeit später ist dann von einem Kristall die Rede, in dem eine neue Welt sichtbar wird – erstaunlicherweise aus Gras und Sternen. Etwas seltsame Kombination fand Leon. Auf jeden Fall fällt das Kind dann auch noch gleich auf die Knie.

Dann wurde es richtig schlimm. Denn da erhob sich ein alter Mann aus dem Gras und das Kind wurde auch gleich als fromm bezeichnet. Offensichtlich hatte Herr Meierhoff bei der Auswahl des Gedichtes wieder mal eine etwas esoterische Phase gehabt.

Auf jeden Fall ist anschließend sogar von einer Wallfahrt die Rede, die dem Kind den Weg zu Gott weist. Dann wird das Kind auch noch vom alten Mann zu seinem Erben erklärt und soll die ganze Tiefe Gottes bekommen und eine neue Zeit verkündigen.

Da wurde es für Leon noch mal interessant. Neue Zeit war ja doch was anders als am Alten zu hängen.

Aber dann wurde es wieder sehr seltsam. Keine konkreten, nachvollziehbaren Dinge, auf die man sich freuen konnte. Das Kind sollte ein letztes Reich verkündigen und anscheinend überirdische Wesen zu sehen bekommen.

Leon war regelrecht der Kopf schwindlig geworden. Da wurde eine seltsame Welt präsentiert, die mit seiner Wirklichkeit nicht viel zu tun hatte. Auch in den Gesichtern seiner Mitschüler sah er völlige Unverständnis. Kein Punkt, an dem man hätte andocken können. Am Ende ging es noch einen Herrn Böhme, einen Mystiker, wie Herr Meierhoff andeutete. Über den sollten sie sich dann bis zur nächsten Stunde informieren. Jetzt reichte es Leon endgültig – die Stunde war ihm schon mystisch genug vorgekommen.

Das einzig Gute an der Situation war, dass ihr Lehrer einer von der Sorte war, der sich wirklich für die Meinung seiner Schülerinnen und Schüler interessierte

Als die entsprechende Frage dann auch kam, meldete sich Leon gleich mit einer möglichen Fortsetzung der Handlung in dem Gedicht. Das machte ihm immer Spaß: Ärger in Kreativität zu verwandeln.

Er fing vorsichtig an: „Also, ich finde an dem Gedicht vor allen Dingen problematisch, dass dieses Kind sich einfach da so auf einen alten Herrn einlässt, der mir mitsamt seinem Buch und der Kristallkugel ziemlich mysteriös vorkommt.“

Dann kam er zu seinem entscheidenden Punkt: „Um mal ein bisschen Realität in diese – wilde Geschichte zu bringen: Wie wäre es, wenn wir die Geschichte so enden lassen würden: Noch ganz unter dem Eindruck dieser himmlischen Erscheinungen wandte das Mädchen sich um und musste zu seinem Schrecken feststellen: Handtasche geklaut, Handy weg.“

Sicherheitshalber fügte Leon diesem Absturz aus dem Jenseits ins Diesseits noch hinzu: „Damit hier keiner ein Vorurteil sieht, nur weil das in der Fremde geschieht. So etwas kann einem nicht nur in fremden Ländern passieren, sondern auch zu Hause.“

Zufrieden blickte er in die Runde – alle schwiegen, ihren Gesichtern war nur Spannung zu entnehmen. Leon setzte sich und schaute erwartungsvoll seinen Lehrer an.

Die ursprüngliche Fassung 1.0

Anders Tivag,

So macht man sich Freunde

Als Leon auf den Vertretungsplan sah, wusste er nicht, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Geschichte fiel aus, dafür bekamen sie ihren Deutschlehrer. Aber der würde wohl wieder Reisegedichte behandeln, und da konnte man sich zumindest ein bisschen in ferne Länder wegträumen.

Es fing auch ganz gut an. In dem Gedicht, das sie bekamen, ging es um ein Kind, das in ein fremdes Land verstoßen wird.

Etwas weniger begeistert war er, als er dann mitbekam, dass dieses Kind wohl für das Neue nicht viel übrig hatte, sondern dem Alten zugewandt blieb.

Aber dann wurde es richtig schlimm. Denn da erhob sich ein alter Mann aus dem Gras und das Kind wurde auch gleich als fromm bezeichnet. Offensichtlich hatte Herr Meierhoff bei der Auswahl des Gedichtes wieder mal eine etwas esoterische Phase gehabt.

Im Rest des Gedichtes ging es dann im selben Stil weiter, und am Ende landete es sogar bei einem Herrn Böhme. Über den sollten sie sich dann bis zur nächsten Stunde informieren.

Das einzig Gute an der Situation war, dass ihr Lehrer einer von der Sorte war, der sich wirklich für die Meinung seiner Schülerinnen und Schüler interessierte

Als die entsprechende Frage dann auch kam, meldete sich Leon gleich mit einer möglichen Fortsetzung der Handlung in dem Gedicht. Wenn ihn etwas änderte, dann entlastete er sich einfach damit, dass er etwas Eigenes dem entgegensetzte.

Er fing vorsichtig an: „Also, ich finde an dem Gedicht vor allen Dingen problematisch, dass dieses Kind sich einfach da so auf einen alten Herrn einlässt, der unter ziemlich mysteriösen Umständen erscheint.“

Dann kam er zu seinem entscheidenden Punkt: „Ich stelle mir dann so richtig vor, wie dieses Mädchen, nachdem es da aus seiner – wahrscheinlich – Traumvision aufgewacht ist, sich umdreht und zu seinem Schrecken feststellen muss: Handtasche geklaut, Handy weg.“

Sicherheitshalber fügte Leon noch hinzu: „Damit hier keiner ein Vorurteil sieht. So etwas kann einem nicht nur in fremden Ländern passieren, sondern auch zu Hause.

Zufrieden blickte er in die Runde – alle schwiegen, ihren Gesichtern war nur Spannung zu entnehmen. Leon setzte sich und schaute erwartungsvoll seinen Lehrer an.

Auszug aus einem Gespräch mit dem Autor

  • Textaussage (TA)
    Herr Tivag – Sie sehen, ich bleibe bei dem Namen, den Sie sich als Pseudonym ausgesucht haben, damit Sie weiter unter seinem Schutz interessante Erlebnisse mit Ihren Schülern haben können.

    • AT (Anders Tivag):
      Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Ein Pseudonym muss gewahrt bleiben. Dabei geht es hier weniger um den Schutz vor zu viel Öffentlichkeit, sondern um die Voraussetzungen für ein offenes Gespräch. Schließlich hat man als Lehrer-Autor nichts davon, wenn die Reaktionen gleich unter irgendeinem Obrigkeitsvorbehalt stehen.
  • TA: Gut, das haben wir geklärt. Wie sind Sie denn auf diese Geschichte gekommen?
    • AT: Nun, ich habe einen Freund, mit dem ich mich immer fröhlich streite. Er ist so jemand, der häufig in irgendwelchen esoterischen Hoffnungswelten lebt – und dann schickt er mir auch mal ein Gedicht, das seiner Meinung nach ein Gleichgesinnter geschrieben hat.
    • Und ich fühle mich dann plötzlich in der Situation wie jemand aus meinem Unterricht, der mit einem Text gar nichts anfangen kann oder will, weil er ihm einfach zu fremd ist.
    • Und ich bin eben immer der Meinung, dass so ein erster Vorbehalt, vielleicht sogar: Zorn raus muss. Dann kann man schauen, ob man sich doch verständigen kann.
  • TA: Was heißt denn hier für Sie Verständigung?
    • AT: Nun auf gar keinen Fall das, was ja beim Wort „Gedankenaustausch“ verspottet wird. Da geht jemand mit seiner Meinung zum Chef und kommt mit dessen Meinung zurück.
    • Nein, mir geht es wirklich darum, dass man die Reaktion des berühmten „Betrachters“ ernst nimmt. Ich beziehe mich da auf den Spruch: „Kunst“ – also auch Literatur – „entsteht im Auge des Betrachters“. Und genauso schön finde ich den Satz „Lesen ist gelenktes Schaffen“. Das kann dann auch mal in eine unerwartete oder zunächst unerwünschte Richtung gehen.
    • Verständigung heißt dann, dass man die andere Seite vor dem Hintergrund ihrer Voraussetzungen versteht und zumindest im Rahmen des Möglichen toleriert.
  • TA: Aber müssen die Schülis – um Ihre gendergerechte Variante mal aufzunehmen – nicht auch das „richtige Interpretieren“ lernen?
    • AT: Natürlich, so ist Schule eben. Aber glauben Sie, dass das besser gelingt, wenn die Schülerseite gleich voller Ablehnung ist und das Unterrichtsergebnis nur bis zur nächsten Klausur bzw. bis zu einer Prüfung für relevant hält und danach mit den Schulbüchern entsorgt?
  • TA: Wie gehen Sie denn als Lehrkraft mit diesem Spannungsfeld zwischen spontaner Reaktion und offiziellen Lernvorgaben um?
    • AT: Nun, ich gehe erst mal offen an den Text heran – mit den Schülis zusammen. Ich bereite mich auf diese Phase auch möglichst wenig vor – also keine alten Unterlagen und keine Interpretationen.
    • Und dann bringe ich mich wirklich als einer von 25 Lesern und Leserinnen ein.
    • Wenn wir uns dann genügend ausgetauscht haben, kommt die Frage fast automatisch: Warum steht dieser Text im Lehrbuch oder gilt als ausreichend klassisch – und wie finden wir das?
    • Dann haben wir ganz sachliche Fragen, die man unabhängig von den eigenen Sympathien oder Antipathien diskutieren kann.
    • Schlimmstenfalls trifft man mit den Schülis eine Absprache: Wenn wir alles ausgetauscht haben, dann schauen wir uns die Vorgaben an – denn die müssen ja z.B. im Zentralabitur möglichst genau erfüllt werden – und merken uns die Wege, wie man die maximale Punktzahl erreicht.
  • TA: Können Sie wirklich so eine distanzierte Position einnehmen – als Lehrkraft?
    • AT: Ja natürlich – weil ich die ganze Zeit authentisch sein kann sowohl in meinen Gefühlen als auch in der anschließenden Übernahme der Lehrerrolle. Ich vergleiche meine Rolle in der Schule gerne mit der Fahrschule. Da gibt es gemeinsame Ziele – und der Fahrlehrer muss auch mal ein bisschen Druck machen, wenn es mit dem Lernen nicht so klappt. Aber alle Beteiligten wissen, dass es für einen guten Zweck ist.
  • TA: Danke, Herr Tivag, das war jetzt am Ende noch ein sehr interessanter Gedanke. Wir veröffentlichen dieses Gespräch ja zusammen mit der Kurzgeschichte – vielleicht ergibt sich ja in manchen Klassen und Kursen auf dieser Basis eine schöne Entwicklung in Richtung Fahrschule – und darüber hinaus.
    • AT: Stimmt, gut, dass Sie das ansprechen. Eine Fahrschule ist sicher noch etwas anderes, als wenn ich z.B. ein Musikinstrument lerne. Da geht es um mehr als Autofahren lernen. Aber für viele Schülis ist eben die Fahrschule in manchen Fächern das Maximum an emotionaler Annäherung und besser als nichts 😉

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