Anders Tivag, „Wie man ein Buch nutzt, ohne es gelesen zu haben“ (Mat8194)

Worum es hier geht:

Anders Tivag ist Deutschlehrer, der unter diesem Pseudonym versucht, an die Texte zu kommen, die er so nicht bereits in Deutschbüchern vorfindet.

In diesem Falle geht es um einen möglichst originellen Einstieg in ein Referat.

In solchen Fällen schreibt er gerne eine kurze Geschichte, die zeigt, worauf es ankommt.

Das sind dann keine Kurzgeschichten – mit einem offenen Ende, sondern eher „Tipp-Gedichten“, die einen auf Ideen bringen können.

Schauen wir uns mal an, was daraus geworden ist.

Am meisten freut er sich, wenn schon der Titel der Geschichte eine Provokation ist.

Anders Tivag,

Wie man ein Buch nutzt, ohne es gelesen zu haben

Aller Anfang ist schwer …

  • Stellen wir uns Folgendes vor:
  • Da ist ein Schüler – nennen wir ihn Maxi, und er soll ein Referat halten: Was spricht für das Lesen von Gedichten, Kurzgeschichten, Romanen und vielleicht sogar Theaterstücken.
  • Also das volle Programm dessen, was die meistens Schülis sich möglichst vom Leibe halten – bzw. auf Abstand.
  • Jetzt also die maximale Herausforderung – für so was gewissermaßen auch noch Werbung machen zu müssen – aber sein Lehrer weiß natürlich, dass man für eine gute Note auch einen Preis zahlen muss. Und das kann man ja schließlich nutzen.
  • So sitzt Maxi also da – und kann sich irgendwie nicht motivieren.

Wer Glück hat, hat auch eine Schwester …

  • Bis seine Schwester kommt, nennen wir sie Nette – weil sie eben nett ist.
  • Kaum sieht sie ihren Bruder leicht verwirrt und auf jeden Fall genervt vor dem Bildschirm sitzen, hat sie auch schon begriffen, was ihn quält.
  • Und wie häufig, ist sie nicht nur nett, sondern hat auch echte Einfälle. In diesem Falle kommt ihr zustatten, dass sie aktuell Deutsch-Referendarin ist – sie weiß also, wie man Themen an Leute ran bringt – und das auf möglichste originelle Art und Weise.

Mal wieder ein weiblicher Geniestreich …

  • Sie schaut Maxi an – und fragt: „Kennst du eigentlich den Roman „Fahrenheit 451“?
  • Klare Antwort: „Nöh“.
  • Nicht ganz so klare Reaktion: „Dann hast du schon die Einleitung zu deinem Referat.“
  • Maxi kennt natürlich seine Schwester, fängt gar nicht an mit „Willst du mich …“ und dann kommt etwas, was man hier nicht aufführen möchte. Sondern er schaut sie bewundernd an. „Geniale Idee“ – um dann nach einer Pause hinzuzufügen: „Nur musste du sie mir noch erklären. Du weißt ja, ich bin ein Mann und lebe also in anderen Welten als du.“
  • Nette: „Lass mich bloß mit deinen Welten in Ruhe. Ich sag dir jetzt einfach, wie ich an deiner Stelle anfangen würde. Hör mir einfach zu – und dann mach was draus.

Das volle Programm für einen ungewöhnlichen Einstieg

  • Also: Du schaust schlau in die Runde und fragst – wie gesagt, ob sie den Roman „Fahrenheit 451“ kennen.
  • Wahrscheinlich nicht – oder hoffentlich haben sie ihn nicht im Englischunterricht gelesen – aber dann wärest du ja dabei gewesen.
  • Also keine positive Reaktion – und dann haust du den maximalen Aufreger raus: „Macht nichts – ich habe ihn auch nicht gelesen.“
  • Spätestens an dieser Stelle wird auch der Letzte in der Klasse aufwachen – denn jetzt gibt es nur zwei Möglichkeiten: Der Lehrer schmeißt dich raus wegen Missachtung alles dessen, was in der Schule üblich ist. Oder du hast eine grandiose Erklärung.
  • Maxi wollte nicht länger schweigen und tat nicht nur interessiert. „Und die wäre?“
  • Nun, du sagst, du hast eine kluge Schwester – und die hat dich mit wenigen Sätzen voll fasziniert.
  • Für das Lesen des Romans hat es aus Zeitmangel nicht gereicht, aber immerhin hast du erkannt, wieso das Buch nützlich ist für den Einstieg in dein Referat. Man muss nur Folgendes verstanden haben:
    • Es geht um einen Feuerwehrmann, dessen Aufgabe es nicht, nicht Brände zu löschen, sondern Häuser zu verbrennen, in denen sich Bücher befinden.
  • Maxi erkannte erstmals einen Zusammenhang zwischen seinem Referat und diesem Roman.
    • Nette erklärte dann, dass es sich in dem Roman um eine Diktatur handelt, deren Anführer Bücher für gefährlich halten, weil sie die Leute auf Gedanken bringen könnten, die ihrer Herrschaft gefährlich sind.
    • Stattdessen das volle Unterhaltungssprogramm – ohne irgendeinen Wert als nur die Leute mit irgendwas zu beschäftigen.
    • An dieser Stelle kannst du eigentlich schon abspringen, weil du einen ersten Grund hast, dich mit zumindest mit „Büchern“ zu beschäftigen. Denn sie stecken ja häufig voller Ideen, die einen wiederum auf eigene Gedanken bringen können.
    • Jetzt musst du nur noch den Sprung hin zur Literatur schaffen.

Die oft übersehene heimliche Realität der Poesie

  • Maxi stöhnte auf – das Bisherige hatte ihm gefallen – aber nun standen die Schreckgespenster wieder mitten im Rahm.
  • Aber seine Schwester beruhigte ihn:
    • Jetzt brauchst du nur noch auf einige Dinge verweisen, die in der Schule wenig gemacht werden – hier kannst du vielleicht sogar auf per Beamer ein paar Sachen zeigen.
    • Zum Beispiel hat mich die Hymne des FC Liverpool total begeistert:
      https://www.spox.com/de/sport/fussball/international/england/2205/Artikel/you-ll-never-walk-alone-beim-fc-liverpool-text-melodie-entstehung-bedeutung.html
      Wieviel Geld zahlen die Leute, um bei dieser Stimmung dabei zu sein. Dahinter steckt Literatur, nämlich ein Gedicht mit einer Melodie.
    • Oder denken wir an den Aufwand, der getrieben wird, um jemandem einen Heiratsantrag zu machen, der mehr enthält als nur eine Frage.
      https://www.scriptaculum.com/1-gedichte/7-Hochzeit+Gedichte+Spr%C3%BCche+und+Verse/16-Heiratsantrag/
      Auch wenn man mit dem, was da geboten wird, für sich selbst noch nicht zufrieden ist, man wählt hier eben die Gedichtform, um etwas auf besondere Art und Weise auszudrücken.
    • Und wenn man Glück hat, hat man schon in der Schule Liebesgedichte kennengelernt, die einen durchaus in Stimmung versetzen können.
      Etwas Besonderes hat sich Joachim Ringelnatz ausgedacht:
      https://www.gedichte7.de/ich-habe-dich-so-lieb.html
    • Dann nähern wie uns jetzt mal größeren „Literaturpaketen“ – zum Beispiel einem gut verfilmten Roman, bei dem einem der Kinobesuch nicht reicht. Hier kann jeder selbst mal überlegen, was ihn so begeistert hat, dass er das Buch fast in einem Zug durchgelesen hat.
    • Oder nehmen wir den Roman „Corpus delicti“ – da hat eine Schriftstellerin schon im Jahre 2009 eine Welt vorausgesehen, in der die Freiheit des Einzelnen immer mehr eingeschränkt wird – angeblich zugunsten höherer Ziele, nämlich der optimalen Gesundheit der gesamten Bevölkerung.
    • Es ist ein gutes Zeichen, dass dieser Roman anscheinend in vielen Schulen Deutschlands gelesen wird – vielleicht hilft das ja, so eine Gesundheitsdiktatur zu verhindern, falls jemand mal auf den Gedanken kommen könnte.

 

Und als Zugabe noch eine Rettung aus dem Altenheim

Nette wollte schon zufrieden mit ihrem Auftritt verschwinden, als Maxi sie am Arm festhielt: „Das ist ja alles schön, aber wie ich unseren Lehrer kenne, wird er sagen: „Literatur, das sind auch Theaterstücke, was mache ich dann?“

    • Nette musste nur kurz überlegen, dann fielen ihr die Rollenspiele ein, die sie während des Referendariats schon hatte machen müssen: Ein Theaterstück ist einfach das Durchspielen eines Konfliktes. Natürlich muss einem nicht alles gefallen, was man heute auf den offiziellen Bühnen sieht. Aber es gibt doch immer wieder auch Jugendtheaterstücke, die echt zum Nachdenken anregen. Ich erinnere mich zum Beispiel an „Das Herz eines Boxers“ – hat wurde mal die Zusammenarbeit zwischen den Generationen auf eine sehr originelle Art und Weise durchgespielt – mit einem  alten Boxer, der in Damenkleidung seine Zwangsherberge verlässt – mit Hilfe eines jungen Ganoven, der Sozialstunden ableisten muss. Wenn das nicht was ist, was man nicht missen möchte.
    • Maxi sagte nur „Danke“ und war schon mit entsprechenden Recherchen beschäftigt. Schließlich wollte er auch Nachfragen standhalten – aber jetzt war alles komplett.

Jetzt hat auch Maxi Feuer gefangen

  • Natürlich hat Nette das hier nicht alles so runtererzählt, wie wir es hier gemacht haben. Sie hat einige Zeit neben ihrem Bruder vor dem Bildschirm gesessen – und dam Ende ist genug Stoff für das Referat herausgekommen.
  • Am meisten hat sie sich gefreut, als Maxi am Ende bewundernd sagte. Toll, da haben wir jetzt sogar einen Ringschluss: Wir haben mit einer Diktatur begonnen – und waren am Ende wieder bei einer – allerdings mit dem Ziel, so etwas zu verhindern. Und die Sache mit dem alten Boxer bringe ich als Zugabe 😉
  • Nette war es dann doch wichtig: Vergiss aber nicht die Fußballhymnen und die Heiratsanträge in Gedichtform und auch nicht die Romane, die manche Leute die ganze Nacht lesen. Auf all das will wohl niemand verzichten, womit du ein Ziel erreicht hättest – nicht nur Diktaturvermeidung – sondern auch mehr Leben, als man selbst erleben kann – man nimmt einfach an einem fremden Leben teil – auch wenn es nur ausgedacht ist – Hauptsache gut.

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