Kann Schillers „Wilhelm Tell“ helfen, Max Frischs „Andorra“ zu verstehen? (Mat125)

Worum es hier geht:

Wir wollen zeigen, warum Schillers „Wilhelm Tell“ eine gute Ergänzung ist für Max Frisch „Andorra“

Was man vielleicht gar nicht richtig wahrnimmt …

  • Eine alte Weisheit sagt: Zeige mir von einer Sache das Gegenteil, dann verstehe ich sie besser.
  • Das kann man am Beispiel von Max Frischs Theaterstück „Andorra“ ausprobieren.
  • Möglicherweise nimmt man die dort vorhandene seltsame Abfolge von Szenen und nachträglichen Statements der Figuren gar nicht, als etwas Besonderes wahr.

Anders sieht das aus, wenn man sich an „Wilhelm Tell“ erinnert …

  • Das ist sicherlich anders, wenn man sich an das Theaterstück „Wilhelm Tell“ erinnert, das man vielleicht in einer früheren Klassenstufe behandelt hat.
  • Vielleicht erinnert man sich auch daran, dass man da richtig mitgerissen wurde. Man zittert gleich in der ersten Szene mit dem Mann mit, der seine Frau vor einer Vergewaltigung bewahrt hat und nun verfolgt wird.
  • Und dann ist da dieser stürmische See. Niemand traut sich, den Flüchtling hinüberzubringen und dann taucht Tell auf.
  • Der ist aber nicht gleich der große Held, sondern er zögert ziemlich lange, und erst sehr spät entscheidet er sich dann, sein Leben für den Flüchtling zu riskieren.

Der große Unterschied zwischen „Andorra“ und Wilhelm Tell

  • Niemand ist bisher auf den Gedanken gekommen, nach dieser Szene eine der Figuren auftreten zu lassen, die dann nachträglich ihr Verhalten reflektiert und vielleicht auch so entschuldigt, wie das der Wirt oder der Doktor in Frischs Theaterstück tun.

„Einfühlung“ als Ziel bei „Wilhelm Tell“

  • Bei Schiller geht das Schlag auf Schlag weiter. Man fühlt sich richtig in die Probleme der armen Schweizer ein.
  • Am Ende empfindet man dann zumindest eine gewisse Genugtuung, wenn dieser grausame Vogt von Tell erschossen wird. Immerhin hat er einen Vater gezwungen, mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen.
    Das hätte leicht tödlich ausgehen können.

Tells Kampf mit sich selbst

  • Übrigens fällt Tell der Schuss auf den Vogt gar nicht so leicht. Vorher gibt es einen seitenlangen Monolog. Der zeigt seinen inneren Kampf, und wir Leser oder Zuschauer kämpfen gewissermaßen mit. Kaum jemand kann sich von den Gefühlen befreien, die von Schiller beabsichtigt sind.
    Am Ende geht es für Tell nicht in erster Linie um Rache, sondern um den Schutz anderer Menschen vor diesem grausamen Vogt.

Was Schiller zeigen will

  • Schiller will uns zeigen, dass man
    • gegen Unterdrückung kämpfen muss
    • und dass man dabei vor allem zusammenhalten muss.

Was ist bei Max Frisch anders?

  • Auch in Frischs Theaterstück „Andorra“ wird einer jungen Frau Unrecht angetan. Schon in der ersten Szene macht ein Soldat deutlich, dass er sie auf jeden Fall kriegen werde. Und tatsächlich vergewaltigt er sie einige Zeit später, während ihr Freund André zwar vor der Tür liegt, aber tief schläft.
  • Aber wir erfahren nichts Näheres über das Leiden der jungen Frau und wie sie damit umgeht.
  • Stattdessen kommt der Soldat anschließend zu Wort: Aus der Rückschau gibt er nur zu, dass er Andri nicht leiden konnte. Er glaube immer noch, dass er ein Jude gewesen sei. Außerdem habe er nur seine Pflicht getan.
  • Man merkt hier: Max Frisch setzt nicht auf Gefühle, sondern auf das Nachdenken der Zuschauer: Die erkennen, dass der Soldat nichts wirklich eingesehen hat und sich nur rausredet.

Was Max Frisch mit Bertolt Brecht zu tun hat:

  • Nun ist der Soldat nicht der Einzige, der sich so wenig einsichtig verhält.
  • Nur der Pater erkennt zumindest, dass er sich ein „Bildnis“ von Andri gemacht hat. Und damit habe er ihn „gefesselt“ und „an den Pfahl“ gebracht.
  • Aber auch das bleibt noch ziemlich in Ansätzen stecken.
  • Die wirkliche Erkenntnis, was in diesem Stück schief läuft, bleibt dem Zuschauer überlassen.
  • Damit sind wir bei Bertolt Brecht, der Max Frisch gewissermaßen die theoretische Vorlage geliefert hat.
  • Er hat nämlich das sogenannte „epische Theater“ entwickelt. Das ist schon in der Bezeichnung ein Widerspruch in sich.
    • Denn im Theater geht es um das Spiel auf der Bühne.
    • Das Wort episch aber bezieht sich auf erzählende Literatur.
    • In einem Drama gibt es aber in der Regel keinen Erzähler.
  • Brechts Grundidee war, die Menschen nicht wie in einem schönen Liebesfilm, gewissermaßen in dem, was sie sehen, versinken zu lassen. Jeder kennt das ja von entsprechenden Kinofilmen.
  • Sondern Brecht will die Auseinandersetzung mit dem, was auf der Bühne präsentiert wird. Man soll also nachdenken, weniger in seinen Gefühlen versinken.
  • Man bekommt keine durchlaufende Handlung präsentiert, sondern Bilder und Gegenbilder oder Kommentare. Diese Störung der „Illusion“ (gemeint ist das Versinken in Mitgefühl) nennt Brecht Verfremdungseffekt. Was auf der Bühne zu sehen ist, soll nicht so sein, wie man es erwartet. Damit ist man zum Nachdenken darüber fast schon gezwungen.

Was man für „Andorra“ daraus erkennen kann:

  • Im Falle von Max Frischs Stück erkennt man, dass fast alle Figuren sich nachträglich mehr oder weniger verteidigen. D.h. die Aussage, dass hier auf leichtfertige Art und Weise einem Menschen Unrecht getan wird, wird noch mal verstärkt.
  • Damit ist aber zugleich ein Problem verbunden:
    • Das Stück zeigt, dass die Figuren nichts aus ihrem Handeln und den Konsequenzen gelernt haben.
    • Wie soll das denn dann der Zuschauer können?
    • Müssen sie nicht den Eindruck gewinnen, dass die Menschen einfach so sind, wie sie sind. Und man kann nichts daran ändern.
  • Das löst aber Unzufriedenheit bei denkenden Menschen aus. Auf die kommt es Frisch genauso wie Brecht an.
  • Es gibt aber einen Unterschied:
    • Brechts Stücke sind von den Ideen von Karl Marx geprägt. Der war der Meinung: Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bestimmen das Verhalten der Menschen.
    • Das ist zum Teil in „Andorra“ auch der Fall. Das Geld spielt eine große Rolle – auch das Karrierestreben etwa beim Doktor.
    • Aber es geht bei Max Frisch auch um zutiefst menschliche Dinge wie die Feigheit des Lehrers oder Andris verletztes männliches Ehrgefühl in der Auseinandersetzung mit Barblin.

Die Offenheit der Aussage des Stücks

  •  Weil Max Frisch weniger von weltanschaulichen bzw. politischen Vorgaben ausgeht als Brecht, ist sein Stück besonders offen.
  • Deutlich werden die Handlungsweisen und zum Teil auch die Motive.
  • Aber durch die Unstimmigkeiten zwischen der Realität und ihrer nachträglichen Bewältigung in den Statements werden die Notwendigkeit und hoffentlich auch die Bereitschaft verstärkt, über die Ursachen der tragischen Entwicklung nachzudenken und vielleicht doch noch Handlungsalternativen zu entwickeln.
  • Auf der Seite
    5-Minuten-Tipp: Kann man sich für Frischs Drama „Andorra“ ein Happy End vorstellen?
    https://textaussage.de/5-minuten-tipp-kann-man-sich-fuer-frischs-drama-andorra-ein-happy-end-vorstellen
    haben wir versucht, die Stellen zu finden, an denen die Handlung anders und zwar besser hätte abbiegen können.
    Damit hätte man dann auch Ideen, wie man selbst und in der Gesellschaft besser mit der Bildnis-Problematik und mit der damit verbundenen Mobbing-Gefahr umgehen könnte.

Weitere Infos, Tipps und Materialien 

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