Anmerkungen zu: Clemens Setz, „Ein Sonett“ und „ein Hochhaus“ (Mat5258)

Worum es hier geht:

Es geht um ein Gedicht, das wir mit 8 Zeilen präsentiert bekommen haben und das wohl aus
„Clemens J. Setz: Die Vogelstraußtrompete. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014″
stammt.
Diese Angabe haben wir aus einer Internet-Literaturzeitung, auf die wir weiter unten noch kurz eingehen.

Wir gehen davon aus, dass das an der einen oder anderen Schule besprochen wird, dort also als Text auch vorliegt, so dass unsere Erklärungen hilfreich sind.

Wenn jemand das Gedicht in kompletter Form hat – wir haben keine „geprüfte“ Version, dann kann er vielleicht mit den folgenden Anmerkungen was anfangen.

  1. Etwas poetisch als sehr schön Angesehenes wird mit einem modernen Gebäude verglichen, das weit von Poesie entfernt ist.
  2. Jetzt kommt Poesie ins Spiel – nämlich Fantasie. Wichtig ist, dass etwas davonfliegen kann – und zwar durch ein eckiges Fenster. Flugzeuge sind ja gemeinhin nicht „eckig“ – also stehen sie hier (Vermutung) eher für etwas Nicht-Büro-Mäßiges.
  3. Etwas eigentlich Angenehmes wie ein Lift bleibt nicht nur stecken, sondern es wird auch noch eine Metapher eingebaut, die etwas Lebensgefährliches, zumindest etwas Bedrohliches andeutet.
  4. Auch hier wieder Positives, die Grenzen des Bürogebäudes Sprengendes, aber der, der „sitzt und schreibt“ ist „längst tot“. Dann wieder eine Sprengung der normalen Wirklichkeitsauffassung: Er ist „immer noch wach“: Erklärungsversuch: Diese Person ist in gewisser Weise tot – durch seine Bürotätigkeit, hat aber noch einen Rest Sehnsucht, was in „wach“ ausgedrückt wird.
  5. Die fünfte Zeile verbindet dann eigentlich mutige Fensterputzer an Hochhäusern mit dem negativen Begriff „Hampelmänner“. Damit soll möglicherweise deutlich gemacht werden, dass ihre Tätigkeit hier überhaupt nicht gewürdigt wird. Oder aber diese Menschen kommen den Leuten auf der Straße eben nicht mehr als Menschen vor, sondern wie Hampelmänner an irgendwelchen Drähten. Das erinnert ein bisschen an die Figuren des Puppentheaters. Auf jeden Fall passt es zu den Signalen der Nicht-Menschlichkeit.

    Dann wird ein weiteres Signal gesetzt, nämlich dass diese Fensterputzer sich bemühen, nett und freundlich zu sein. Sie treffen aber auf Gesichter, die weinen. Das steht wohl für die allgemeine Situation von ausgenutzten Angestellten.
  6. In der Zeile 6 dann ein scheinbar positiver Kontrast. Denn neben den weinenden Gesichtern gibt es auch lachende. Das wird aber dann sofort durch den Relativsatz eingeschränkt: Man glaubt dort, miteinander in einer menschlichen Beziehung zu sein, das ist aber nicht real.
  7. Die siebte Zeile scheint dann anzudeuten, dass dieses Hochhaus durchaus etwas hat, was man eher bei einem Privathaus vermutet, nämlich Balkone. Dass das aber nicht mit Komfort und Schönheit verbunden ist, zeigt die Verbindung mit abgeknickten Antennen. Man kann oder muss dann davon ausgehen, dass diese Balkone eher Deko sind und nicht gepflegt werden.
  8. Die letzte Zeile ist dann wieder besonders rätselhaft, weil verkürzt.
    Die Gegensprechanlage steht für das Künstliche der Kommunikation im Umfeld eines solchen Hochhauses. In gewisser Weise steht es auch für Sicherheitsbedürfnisse, man möchte nicht jeden ins Haus lassen.
    Schwierig ist dann die Verbindung von Verneinung und Schweigen.
    Hier hat man verständlicherweise große Interpretationsspielräume.
    Wir begnügen uns damit, dieser Gegensprechanlage, eine scheinbare Freundlichkeit zuzusprechen, die man auf der schweigenden  Straße nicht findet.
    Mit Schweigen wäre dann die Anonymität der Menschen auf der Straße gemeint. Zumindest bei der Kommunikation über eine Gegensprechanlage kann man im Unterschied dazu zumindest am Anfang ein gewisses Maß an professioneller Freundlichkeit erwarten.
    Oder man geht soweit, dass man sich vorstellt, dass alle auf der Straße aneinander vorbeihetzen – und hier an der Gegensprechanlage plötzlich direkte Kommunikation, die aber nicht weit reicht.

Bündelung der Signalen zu Aussagen:

Das Gedicht zeigt:

  1. auf fast schon romantische Weise die Spannung zwischen der modernen Welt der der Industrie und Großstädte einerseits und den Resten von Menschlichkeit und vom Bemühen um Ausflüge in eine natürlichere Welt.
    1. 14-stöckiges Hochhaus gegen Sonett
    2. eckiges Fenster und davonfliegendes Flugzeug
    3. ein im Hals stecken bleibender Lift
    4. Jemand ist tot, obwohl er immer weiterschreibt, während Wolken davonziehen
    5. Hampelmänner gegen Fensterputzer
    6. weinende Gesichter gegen zärtliches Wischen
    7. man glaubt sich nur zu kennen, auch wenn man lacht
    8. abgeknickte Antennen und ansatzweise angestelltenfreundliche Balkone
    9. eine Gegensprechanlage, die das Schweigen der Straße verneint.
  2. Keinen direkten Bezug zur Sonettform, denn es sind keine 14 Zeilen und eigentlich werden nur diese Gegensätze aneinandergereiht.
  3. Interessant allerdings, dass am Ende nur vom Sonett die Rede ist, das „Balkone und abgeknickte Antennen“ und “ eine die schweigende Straße verneinende Gegensprechanlage“ hat.
    Vielleicht muss man diese beiden Zeilen ernster nehmen.
    Das würde dann bedeuten, dass die Poesie eigentlich „Balkone“ hat, aber man ihr die „Antennen“ „abgeknickt“ hat. Das heißt, dass die Poesie niemanden mehr erreichen kann.
    Aber sie hat zumindest eine „das Schweigen“ der Menschen auf den Straßen „verneinende“, also in Frage stellende „Gegensprechanlage“.
  4. Wer wie wir mit diesem Gedicht in eine Kommunikation eingetreten ist, erhält sich die Chance, dass man danach auch noch die Menschen trifft, die man sucht.
  5. Ob das dann „Fensterputzer“ sind oder „Hampelmänner“, bleibt offen, macht uns aber Hoffnung, denn da weinen ja schon Menschen in diesem Gebäude – und das tut man nur, wenn man einen Verlust begriffen hat oder zumindest wie in Kafkas „Auf der Galerie“ zumindest erfühlt.

Auswertung einer Internet-Seite

Auf der Seite
https://lyrikzeitung.com/2014/05/16/61-sonett-aus-glas-und-beton/
wird zumindest kurz auf dieses Gedicht eingegangen.

Wir schauen uns mal die dort vorhandenen Interpretationsansätze an und werten sie aus:

  • „Die ästhetischen Setzungen des Gedichtes gleichen einem Gebäude aus Glas und Beton, mit 14 Stockwerken.
    • Das ist erst mal nur eine Behauptung, die vielleicht erst verstanden wird, wenn man die möglicherweise kompletten 14 Zeilen des Gedichtes gefunden hat.
  • Gerade diese stählerne Anlage aber ist in ihrer Geschlossenheit die Startbahn für ganz andere Dimensionen, für das Poetische, das hier als Flugobjekt gegen alle Realität durch alle Öffnungen davonsegeln kann.
    • Hier wird richtig darauf hingewiesen, dass dieses Gebäude tatsächlich eine Art Startrampe ist – es ist nur fraglich, für wen, ob die Menschen wirklich dieses Gebäude verlassen können, sicher nicht durch die Fenster, wohl aber auf den Flügeln der Fantasie.

Kreativer Impuls

Natürlich ist es eine gute Idee, zu diesem Gedicht ein Parallelgedicht zu schreiben, das sich mit seinem Inhalt auseinandersetzt, ihn aber noch erweitert oder überhöht.

Weitere Infos, Tipps und Materialien