Wie klärt man die Aussagen eines Theaterstücks – Beispiel „Die Physiker“ (Intentionalität)

Worum es geht:

  1. Es geht um die „Aussagen“ des Stücks, nicht um das, was Dürrenmatt mit ihm „sagen“ wollte. Beides kann (weitgehend) identisch sein, aber bei literarischen Werken zählt nur das, was man aus ihm selbst herausholen kann. Deshalb äußern sich die meisten Schriftsteller auch nicht zu den Aussagen dessen, was sie sich ausgedacht haben. Denn es kann im Extremfall falsch sein – auf jeden Fall enthält es mehr, als der Autor sich überlegt hat.
  2. Man muss sich also die Signale anschauen, die im Werk – und in diesem Beispielfall – in Dürrenmatts Stück „Die Physiker“ zu finden ist. Denn ihre Summe, ihre Bündelung ist das, was das Drama aussagt. Am besten schaut man sich eine entsprechende Übersicht über den Inhalt und Schlüsselzitate an und hält die entsprechenden Signale fest. Wir werden das im Folgenden mal durchspielen.

Ausgangspunkt ist die Übersicht auf der folgenden Seite:

https://www.schnell-durchblicken2.de/lv-phy-physiker-inhalt-und-zitate

Auswertung der Übersicht im Hinblick auf Aussage-Signale

Wir haben das hier erst mal einfach reinkopiert und werden dann jeweils die Signale, die für die Aussagen des Stücks von Bedeutung sein könnten, rot hervorheben.

Auf S. 17 fragt sich ein Inspektor: „Bin ich eigentlich verrückt?“

    • Dieser Inspektor ermittelt in einer „Irrenanstalt“, wie man das früher nannte, in der ein angeblich kranker Physiker seine Pflegerin umgebracht hat.
    • Dieser Inspektor leidet zunächst einmal darunter, dass er bei seiner Arbeit nicht rauchen kann und auch keinen Schnaps angeboten bekommt.
    • Außerdem muss er es ertragen, dass die Chefärztin einen anderen angeblich erkrankten Physiker, der sich für Einstein hält, bei einer Konzertübung auf der Geige begleitet.
    • Bei solchen Verhältnissen kommt er „ganz durcheinander“ und fühlt sich „fertig“ gemacht, wie er sagt. (S. 17)
    • Signalauswertung:
      Der Anfang zeigt schon, dass hier ungewöhnliche Verhältnisse vorliegen, mit denen die Vertreter der öffentlichen Ordnung, des Staates nicht fertig werden bzw. überfordert sind.

Auf S. 23 wird es für ihn noch heftiger:

    • In einem Gespräch mit dem Mörder, der sich für den Physiker Newton hält, sagt der ihm kühl: „Sie sind hier der Kriminelle […] Sie sollten sich selber verhaften“.
    • Dahinter steht ein Dialog, den der Physiker mit dem Inspektor kurz vorher geführt hat. Auf S. 26 wird deutlich, dass es gefährliche Erfindungen bis hin zur Atombombe gibt.
    • Aber schon die Elektrizität ist etwas, was Techniker bereitstellen und was die Menschen dann später einfach nur nutzen und auch missbrauchen.
    • Signalauswertung:
      Offensichtlich sind nicht einmal Mörder die größte Gefahr, sondern Erfindungen bzw. Entdeckungen wie die Elektrizät, die von Menschen auch missbraucht werden können und werden.

Auf S. 24 sagt dann die Chefärztin etwas sehr Wichtiges,

  • sie spricht nämlich (bzw. übernimmt das von ihrem Vater), dass es „menschliche Abgründe“ gibt , „die uns Psychiatern auf ewig verschlossen sind.“ Und was die Morde angeht, gibt sie auch zu: „Wenn hier jemand versagte, so ist es die Medizin […] Diese Unglücksfälle waren nicht vorauszusehen, ebensogut könnten Sie oder ich Krankenschwestern erdrosseln.“ (27)
  • Das passt zu dem, was der sog. Newton vorher zum Inspektor gesagt hat, er solle sich selbst verhaften.
  • Und es zeigt die Hilflosigkeit auch der Fachleute.
  • Signalauswertung:
    • Deutlich werden die Grenzen menschlicher Moral und Wissenschaft.

Die nächste interessante Stelle findet sich auf S. 37.

  • Dort sagt nämlich der dritte Physiker namens Möbius zu einem seiner Söhne, der ihn besucht und Physiker werden will: „Das darfst du nicht […] Ich hätte es nie werden dürfen […] Ich wäre jetzt nicht im Irrenhaus.“
  • Auch dies entspricht dem, was Newton auf S. 26 dem Inspektor gesagt hat: Physiker machen wichtige Erfindungen, Techniker verbreiten sie und am Ende wird alles falsch und gefährlich genutzt.
  • Signalauswertung:
    • Betont wird die Gefährlichkeit von Erfindungen beziehungsweise wissenschaftlichen Entdeckungen.

Auf S. 41

  • trägt Möbius seinen drei Söhnen, seiner Ex-Frau und deren neuem Mann, einem Missionar, einen „Psalm Salomos“ vor,
  • der das Leben von Weltraumfahrern in den schlimmstmöglichen Farben malt.
    Sie „verreckten“ im Staub des Mondes oder starben auf den Planeten, die Sonne erscheint „radioaktiv“, also lebensfeindlich. Es tauchen auch Wörter auf wie „vollkotzen“ und „unanständige Witze“. Am Ende erreichen sie nichts, sind nur „Mumien in unseren Schiffen / Verkrustet von Unrat [Dreck, Müll].“
  • Signalauswertung: Offensichtlich soll hier deutlich werden, dass eine Heldentat des menschlichen Geistes und der von ihm entwickelten Technik letztlich nichts Positives bringt, sondern eher das Gegenteil.
  • Das Stück präsentiert hier eine sehr einseitige und auch übertrieben erscheinende Sicht auf die Raumfahrt.
  • Zurecht wird auch darauf hingewiesen, dass der berühmte Blick auf den aufgehenden blauen Planeten Erde den Menschen ein neues und durchaus positives Bild von ihrer Existenz geben kann. Vor allem wird immer wieder argumentiert, dass mit einer solchen Perspektive auch die Schutzbedürftigkeit unseres Heimatplaneten veranschaulicht wird. Hier eine interessante Fundstelle dazu.

Auf S. 44

  • erklärt Möbius dann nach der Vertreibung seiner Familie sein Verhalten gegenüber Schwester Monika, die für ihn zuständig ist:
  • „Die Vergangenheit löscht man am besten mit einem wahnsinnigen Betragen aus, wenn man sich schon im Irrenhaus befindet: Meine Familie kann mich nun guten Gewissens vergessen.“
  • Signalauswertung: Deutlich wird hier eine ausgeprägte Selbst Herrlichkeit von Möbius. Er gibt vor, alles zu wissen, und handelt dementsprechend auch, ohne Rücksicht auf andere. Angesichts seines Scheiterns kann man das natürlich auch als ungewollte Satire verbuchen. Dann wäre der Fall Möbius selbst ein Beispiel für die Selbstüberhebung des Verstandes und das damit verbundene Scheitern.
  • Es bleibt aber die Frage, warum die Leiterin der Klinik  als Vertreterin der Macht selbst verrückt sein muss. Das entschuldigt sich ja in gewisser Weise und enthält ein Element Hoffnung, das der Wirklichkeit wohl kaum standhält. Dort verbindet sich und Moral durchaus erfolgreich mit Vernunft.

Auf S. 49

  • macht Möbius deutlich, warum er im „Irrenhaus“ ist: „Ich habe mein Geheimnis verraten, ich habe Salomos Erscheinung nicht verschwiegen. Dafür lässt er mich büßen. Lebenslänglich. In Ordnung.“
  • Salomo steht hier als weiser König für all die Entdeckungen, die Möbius auf dem Feld der Physik gemacht hat – und die er besser für sich behalten sollte. Das meint er aber nur im Irrenhaus zu können.
  • Signalauswertung: Möbius konstruiert sich hier auf sehr aufwändige Weise eine Art Mythos zurecht.  Das ist eine Überhöhung der Realität, die zugleich den Blick verstellt auf die Vielfalt der wissenschaftlichen Phänomene.

Auf der gleichen Seite 49

  • warnt er Schwester Monika, die ihm dann doch ihre Liebe gesteht: „Sie laden nur Unglück auf sich. Verlassen Sie die Anstalt, vergessen sie mich. So ist es am besten für uns beide.“
  • Monika begreift aber nicht, dass Möbius seine Forschungen vor der Welt verbergen will, weil er ihren Missbrauch fürchtet. Stattdessen erklärt sie auf S. 52: „Du bist auswählt […] die Weisheit des Himmels wurde dir zuteil. Nun hast du den Weg zu gehen […] er führt in die Öffentlichkeit.“ Sie hat sogar schon mit dem ehemaligen Lehrer von Möbius gesprochen, der will seine Manuskripte prüfen, um sie ggf. zu veröffentlichen.
    Das ist ihr Todesurteil – Möbius bringt sie genauso um, wie die beiden anderen Schwestern ermordet wurden, wenn auch unter Tränen.
  • Signalauswertung:
    • Hier wird deutlich, dass es neben der Vernunft auch die Liebe gibt als das vielleicht tiefste Gefühl, das Menschen antreibt.
    • In diesem Fall geht es in zwei ganz unterschiedliche Richtungen: Schwester Monika ist offensichtlich eine kluge, starke Frau, die sogar für Möbius, den sie liebt, mit plant.
    • Dieser wiederum hat möglicherweise auch Gefühle für die junge Frau, denn immerhin tötet er sie unter Tränen.
    • Man kann diese Passage gut vergleichen mit der Feststellung in Brechts Parabelstück „Der gute Mensch von Sezuan“,  in der die Liebe als die tödlichste aller Schwächen des Menschen bezeichnet wird.
    • Kritisch diskutieren kann man bei Möbius natürlich das Missverhältnis zwischen seiner scheinbar menschenfreundlichen Ideologie und seinem mörderischen Verhalten. Hat der Mensch das Recht, einen anderen für einen angeblich guten Zweck zu opfern und in diesem Fall ja noch für eine nur angenommene Gefahr.

Auf S. 55

  • ist zu Beginn des II. Aktes der Inspektor wieder im Haus, aber er sagt gleich zu Ärztin: „Möbius besichtige ich nicht. Den überlasse ich Ihnen. Endgültig. Mit den anderen radioaktiven Physikern.“ Hier merkt man, dass die Staatsgewalt völlig kapituliert hat.
  • Signalauswertung:
    • Hier wird auf schon fast satirische Weise die Aussage des Stückes deutlich, dass Staatsorgane nicht in der Lage sind, ihrer Aufgabe gerecht zu werden.
    • Denn dieser Zigaretten rauchende  und nach Alkohol dürstende Inspektor hat weder Möbius im Visier noch hat er irgendetwas mitbekommen von den Aktivitäten der Ärztin.
  • Kritik:
    • Hier wird wieder auf besonders drastische Art und Weise deutlich, dass es sich bei dem Stück von Dürrenmatt um eine Satire mit geringem Wirklichkeitsbezug handelt.
    • Denn wenn die Staatsorgane und im Extremfall sogar die Geheimdienste so lächerlich unprofessionell arbeiten würden, wie Dürrenmatt sie hier präsentiert, dann müsste man vielleicht auch weniger Angst haben vor Diktaturen.
    • Es ist wirklich unglaublich, wie sehr hier ein Einzelner die Verantwortung auf die eigenen Schultern nimmt. Die Gegenposition dazu, die sich zum Beispiel in den nachgeschoben „21 Punkten“ findet, wird in keiner Weise geprüft. Letztlich hat Dürrenmatt das falsche Stück geschrieben, wenn er wirklich sich politisch äußern wollte.

Etwas später, auf S. 60,

  • wird er gegenüber Möbius erklären: „Die Gerechtigkeit macht zum ersten Male Ferien, ein immenses Gefühl. Die Gerechtigkeit, mein Freund, strengt nämlich mächtig an, man ruiniert sich in ihrem Dienst, gesundheitlich und moralisch, ich brauche einfach eine Pause.“
  • Signalauswertung:
    • Hier liegt eine andere Form von Überheblichkeit vor, denn als Vertreter des Staates hat der Inspektor gar nicht das Recht, selbst zu entscheiden, wann er Urlaub macht, ohne wichtige Angelegenheiten dann an einen Vertreter zu übergeben.
    • Auch hier merkt man wieder, wie wirklichkeitsfremd und realitätsfern das Stück von Dürrenmatt ist.
    • Der Hinweis auf das Groteske bei Dürrenmatt ist legitim, beschränkt den Aussagewert des Stückes aber auf eine These, der man leicht widersprechen kann. Darauf werden wir noch separat eingehen, weil das ein grundsätzlicher Einwand gegenüber Dürrennmatts Anspruch auf Beschreibung von Realität ist – zumindest in diesem Stück. Das sieht in „Der Besuch der alten Dame“ ganz anders aus.

Auf S. 62

  • wird es dann zwischen den drei Physikern langsam ernst: Newton leitet das ein mit em Hinweis: „Sie wünschen ja offenbar Ihr ganzes Leben im Irrenhaus zu verbringen. Aber für mich spielt es eine Rolle. Ich will nämlich hinaus.“ Direkt darauf verrät er seine wahre Identitä, er ist genauso Agent wie der Pseudo-Einstein, beide wollen Möbius entführen, um seine Erfindungen und Entdeckungen für ihr Land zu nutzen. Deshalb mussten sie auch morden, weil die anderen Pflegerinnen sie auch durchschaut hatten.
  • Signalauswertung:
    • Der Hinweis auf die konkurrierende Bestrebungen der Großmächte, vertreten durch ihre Geheimdienste, ist natürlich grundsätzlich richtig.
  • Kritik:
    • Aber sehr originell ist er natürlich nicht, für jemanden, der im Zeitalter des Kalten Krieges das Werk geschrieben hat, auch wenn er in der neutralen Schweiz lebte.

Auf den Seiten 68 und 69

  • wird dann der Gegensatz zwischen den Agenten und Möbius noch einmal ganz deutlich:
    Newton: „Sie sind ein Genie und als solches Allgemeingut.“
    Möbius dagegen zum Ergebnis seiner Entdeckungen: „Das Resultat ist verheerend“ – nämlich, wenn es missbraucht wird, was er erwartet.
  • Signalauswertung:
    • Hier wird natürlich deutlich, dass der durchaus richtige Anspruch, den Newton äußert, der realen Konkurrenzsituation zwischen den Mächten widerspricht.
    • Damit bestätigt er ja im Rahmen des Stückes das, was Möbius ihm entgegenhält. Denn die Weltmächte strebten im Kalten Krieg durchaus eine Überlegenheit an, die die Gegenseite waffenlos gemacht hätte.
  • Kritik:
    • Ansonsten bleibt auch hier der grundsätzliche Einwand, dass der Einzelne sich wohl überfordert, wenn er mögliche wissenschaftliche Erkenntnisse zurückhält.
    • Das mag einen Zeitgewinn bringen, ist aber keine Lösung auf Dauer, vor allem nicht, wenn die damit gewährte Frist nicht genutzt wird.
    • Interessant übrigens (und das wäre auch eine negative Aussage des Stückes), dass nirgendwo die Rede ist von moralischer oder demokratischer Erziehung. Selbst die Theoretiker der Abschreckung im Kalten Krieg haben weiter gedacht als Dürrenmatt.

Auf S. 71

  • schockt Möbius die beiden Agenten: „Meine Manuskripte? Ich habe sie verbrannt.“ Die beiden „stecken ihre Revolver ein und setzen sich vernichtet aufs Sofa.“
  • Signalauswertung:
    • Hier zeigt sich die einzige Lösung, die Dürrenmatt in diesem Stück thematisiert, nämlich die eigenmächtige Vernichtung von Erkenntnissen.
  • Kritik:
    • Dass man so etwas im Falle einer Entführung durch Folter oder ähnliche Einwirkung rückgängig machen kann, spielt in diesem doch sehr einfach gestrickten Stück keine Rolle.

Auf den Seiten 72 und 73

  • gibt Möbius den beiden Agenten noch einmal die Gelegenheit, ihm eine mögliche Zukunft in ihrem Land zu beschreiben. Am Ende stellt er fest: „Jeder preist mir eine andere Theorie an, doch die Realität, die man mir bietet, ist dieselbe: ein Gefängnis. Da ziehe ich mein Irrenhaus vor. Es gibt mir wenigstens die Sicherheit, von Politikern nicht ausgenützt zu werden.“
  • Signalauswertung:
    • Hier wird eine Sicht auf die Weltmächte des kalten Krieges deutlich, die von Gleichwertigkeit der Systeme ausgeht.
  • Kritik:
    • Die meisten Menschen haben das allerdings anders gesehen, wenn man an die Richtung denkt, in die viele versucht haben, den Eisernen Vorhang zu überwinden.

Wir setzen das hier noch fort.

Auf S. 74

  • macht Möbius den beiden anderen Physikern noch einmal das Dilemma der Physik deutlich: „Wir haben das Ende unseres Weges erreicht. Aber die Menschheit ist noch nicht soweit […] Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen. Es gibt keine andere Lösung, auch für euch nicht.“
  • Signalauswertung/Kritik:
    • Hier zeigt sich wieder die unglaubliche elitäre Arroganz der Physiker.
    • Dass Dürrenmatt sie am Ende scheitern lässt, macht das Stück natürlich nicht besser.
    • Er hätte sich vielleicht wirklich lieber darauf konzentrieren sollen, was die Menschheit positiv tun kann.

S. 75 Zum Wendepunkt

  • in der Haltung der anderen beiden Physiker wird der Kurzdialog auf S. 75:
  • Möbius: „Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. […] In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.“
    Newton: „Wir sind doch schließlich nicht verrückt.“
    Möbius: „Aber Mörder.“
    Da wird ihnen klar, dass sie eine rote Linie überschritten haben, hinter die sie nicht mehr zurück können.
  • Signalauswertung:
    • Hier zeigt sich wieder die einseitige Sicht, die völlig übersieht, dass neue Gedanken auch neue Freiheiten mit sich bringen können.

Auf S. 76

  • bringt es Möbius auf die drastische Formel: „Wir sind wilde Tiere. Man darf uns nicht auf die Menschheit loslassen.“
  • Daraufhin erklären sich die anderen beiden auch bereit, mit Möbius im Irrenhaus zu bleiben: Newton: „Verrückt, aber weise.
    Einstein: „Gefangen, aber frei.“
    Möbius: „ Physiker, aber unschuldig.“ (77)‘
  • Signalauswertung:
    • Die Selbsteinschätzung von Möbius ist an Menschenverachtung nicht zu überbieten.
    • Ganz problematisch sind auch die pastoralen Schlussformeln, die von der Tonlage her an das Finale des „Besuchs der alten Dame“ erinnern.
    • Es ist sehr zu bezweifeln, ob diese drei Physiker wirklich weise sind.
    • Mit dem Gefühl der Freiheit dürfte es auch bald vorbei sein, wenn sie erst mal einige Zeit ohne Hoffnung hinter Gittern verbracht haben.
    • Am dreistesten ist allerdings die Selbsteinschätzung als „unschuldig“, wenn man an den Tod von drei jungen Frauen denkt.
    • Dürrenmatt macht es sich zu einfach, wenn er diese drei Überzeugungstäter nur an einem Zufall scheitern lässt. Das müsste sehr viel grundsätzlicher angegangen werden, wenn das Groteske zu irgendeiner Einsicht führen soll.

Auf S. 82

  • dann der Schock, die Ärztin erscheint und erklärt: „Der goldene König hat mir den Befehl gegeben, Möbius abzusetzen und an seiner Stelle zu herrschen […] Ich war Ärztin und Möbius mein Patient. Ich konnte mit ihm tun, was ich wollte. Ich betäubte ihn, jahrelang, immer wieder, und photokopierte die Aufzeichnungen Salomos, bis ich auch die letzten Seiten besaß.“
  • Sie hat inzwischen ein Unternehmen aufgebaut, das die Forschungsergebnisse von Möbius nutzen wird. Als Möbius die Ärztin vor der Welt anklagen will, verweist die cool auf ihren „Irre-Mörder-Status“ und bekennt, dass sie die drei Pflegerinnen regelrecht auf die Physiker „gehetzt“ hat, alles ist also von ihr arrangiert worden.
  • Signalauswertung:
    • Man fragt sich wirklich, was Dürrenmatt damit erreichen wollte, dass er die Ärztin, die in ihrem  moralischen Koordinatensystem ja durchaus vernünftig handelt, als irre präsentiert.
    • Diese egoistische Machtgier gibt es doch in der Realität und das schon seit Jahrtausenden.
    • Natürlich ist sie in den Zeiten der Massenvernichtungsmittel noch gefährlicher geworden, aber Dürrenmatts Stück bietet nicht den geringsten Ansatz für bessere Lösungen als die der Physiker.
  • Am Ende

  • übernehmen die Physiker wieder ihre Krankheitsrollen, Möbius gibt am Ende noch einen Hinweis auf die Ursachen der Katastrophe und ihre weitere Entwicklung:
    „Ich bin der arme König Salomo. Einst war ich unermesslich reich, weise und gottesfürchtig.  […] Aber meine Weisheit zerstörte meine Gottesfurcht, und als ich Gott nicht mehr fürchtete, zerstörte meine Weisheit meinen Reichtum. Nun sind die Städte tot […] und irgendwo um einen kleinen, gelben, namenlosen Stern kreist, sinnlos, immerzu, die radioaktive Erde.“ (86/7)
  • Signalauswertung:
    • Das ist eigentlich die einzige Stelle, in der Dürrenmatts Stück auf ein wirkliches Problem hinweist, nämlich die fehlende moralische Grundhaltung, die das Zünden von Atombomben genauso verhindert wie das Töten von Krankenschwestern.
    • Da die Geschichte der Menschheit allerdings zeigt, dass es nie genügend Moralität gegeben hat, sondern immer die brechtsche Erkenntnis galt: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, sollte man wenigstens auf andere Selbstbegrenzungsmechanismen verweisen, wie Gewaltenteilung und demokratische Kontrolle.

Weiterführende Hinweise