Interpretation Wolfgang Borchert Bleib doch, Giraffe (Mat5885-TA-Int)

Worum es hier geht:

  • Es gibt Kurzgeschichten, die relativ einfach zu verstehen sind. Dann gibt es aber auch welche, die fast genauso verrätselt wirken wie ein Gedicht.
  • In beiden Fällen kann es helfen,
    • den Text in möglichst kleine Teile zu zerlegen.
    • Dann schaut man, was da eigentlich vom Erzähler präsentiert wird.
    • Wenn etwas unklar ist,
      • kann man entweder versuchen es zu erklären (Hypothesen-Bildung)
      • oder aber man benennt das einfach so. Denn auch Unklarheiten sind Aussagen eines Textes.

Im Folgenden stellen wir eine Kurzgeschichte vor, bei der man wirklich fast Satz für Satz analysieren muss, um die Geschichte wirklich zu verstehen. Aber es lohnt sich.

  • Interessant ist auch die Stelle mit der Selbstkorrektur, was die Giraffe angeht
    Rot formatiert die erste, falsche Annahme.
    Grün dann das bessere Verständnis.
  • Auf einzelne sprachliche Mittel könnte man noch genauer eingehen.

Die Geschichte ist u.a. hier zu finden.

Vorstellung der Geschichte mit Anmerkungen zu den Erzählschritten

Wolfgang Borchert

Bleib doch, Giraffe

  1. Er stand auf dem windüberheulten nachtleeren Bahnsteig in der großen grauverrußten mondeinsamen Halle. 
    • Ganz normaler Kurzgeschichten-Anfang, bei dem auf jeden Fall eine unangenehme Atmosphäre deutlich wird.
  2. Nachts sind die leeren Bahnhöfe das Ende der Welt, ausgestorben, sinnlos geworden. Und leer. Leer, leer, leer.
    • Hier eine verallgemeinernde These, die besonders die Leere, die Einsamkeit und die Sinnlosigkeit solcher Orte hervorhebt.
  3. Aber wenn du weitergehst, bist du verloren. Dann bist du verloren. Denn die Finsternis hat eine furchtbare Stimme. Der entkommst du nicht und sie hat dich im Nu überwältigt. 
    • Jetzt wendet sich der Erzähler an ein Du und betont dabei zunächst einmal den Zustand des Verlorenseins. Weil das, was gesagt wird, zu dem passt, was der Erzähler vorher auch schon selbst gesagt hat, kann man wohl davon ausgehen, dass er sich hier selbst anspricht.
  4. Mit Erinnerung fällt sie über dich her – an den Mord, den du gestern begingst. Und mit Ahnung fällt sie dich an – an den Mord, den du morgen begehst.
    • Hier wird jetzt eine Verbindung hergestellt zwischen der aktuellen Situation und der Gesamtsituation, in der der Erzähler sich befindet. Es ist von Morden die Rede, wobei erst mal unklar bleibt, ob es sich hier um einen Massenmörder handelt oder auch vielleicht um einen Soldaten.
    • Denn von Borchert kennt man ja viele Kurzgeschichten, die etwas mit Krieg zu tun haben.
    • Das würde dann allerdings bedeuten, dass hier ein recht extremes Urteil über Soldaten gefällt wird, das sicherlich nicht in jedem Fall gerechtfertigt ist.
    • Denn es gibt ja schließlich auch Soldaten, die ihr Land verteidigen müssen.
  5. Und sie wächst einen Schrei in dir an: niegehörter Fischschrei des einsamen Tieres, den das eigene Meer überwältigt.
    • Hier muss man zunächst überlegen, worauf sich das Personalpronomen „sie“ bezieht. Das ist in diesem Falle die Erinnerung, die zum einen personifiziert wird, zum anderen wird sie auch noch mit einem Neologismus verbunden („Und sie wächst einen Schrei in dir an“ ist keine normale Verwendung des Wortes anwachsen, es wird von einem intransitiven Verb zu einem transitiven ).
    • Dazu kommt die Gleichsetzung mit dem animalischen Schrei eines Tieres. Seltsam ist, dass hier ein Fisch schreien kann, was normalerweise nicht möglich ist. Vielleicht ist aber das auch gerade die Funktion dieses künstlerischen Mittels.
  6. Und der Schrei zerreißt dein Gesicht und macht Kuhlen voll Angst und geronnener Gefahr darin, daß die andern erschrecken. So stumm ist der furchtbare Finsternisschrei des einsamen Tieres im eigenen Meer. Und steigt an wie Flut und rauscht dunkelschwingig gedroht wie Brandung. Und zischt verderbend wie Gischt.
    • Hier sieht man, dass dem Autor und indirekt dem Erzähler durchaus bewusst war, dass ein Fisch nicht schreien kann. Es wird deutlich, dass es hier wohl darum geht, dass ein solcher Schrei sich dann eher nach innen richtet, wenn er nicht raus kann. Letztlich führt das zu einer existenziellen Bedrohung für den Betroffenen.
  7. Er stand am Ende der Welt. Die kalten weißen Bogenlampen waren gnadenlos und machten alles nackt und kläglich. Aber hinter ihnen wuchs eine furchtbare Finsternis. Kein Schwarz war so schwarz wie die Finsternis um die weißen Lampen der nachtleeren Bahnsteige.
    • Hier wird noch einmal auf die Ausgangssituation zurückgegriffen, und das Negative verstärkt sich hier natürlich durch all das, was eben gesagt worden ist.
  8. Ich hab gesehen, daß du Zigaretten hast, sagte das Mädchen mit dem zu roten Mund im blassen Gesicht.
    • Hier verändert sich die Situation durch das hinzubekommen einer weiteren Figur. Die Frage nach Zigaretten passt zu der Situation am Ende des Krieges. Der Rothemund könnte darauf hindeuten, dass dieses Mädchen sich Männern anbieten muss.
  9. Ja, sagte er, ich hab welche. 
    • Diese Antwort spricht dafür, dass der Soldat in einer etwas günstigeren Position ist als das Mädchen. Das ist aber auch verständlich, denn er muss ja jeden Tag sein Leben riskieren. Wenn man es zufällig weiß, kann man darauf hinweisen, dass man in kriegen immer wieder Soldaten auch mit Alkohol für den lebensgefährlichen Kampf motiviert hat.
  10. Warum kommst du dann nicht mit mir? flüsterte sie nah.
    • Hier bestätigt sich jetzt die Vermutung, dass das Mädchen sich Männern anbietet.
  11. Nein, sagte er, wozu?
    • Diese Frage kann man natürlich so verstehen, als ob der Soldat wirklich nicht weiß, worum es geht. Wahrscheinlicher ist aber, dass er sich auch im Hinblick auf dieses Angebot nicht viel Hoffnung macht, der Lehre und Sinnlosigkeit seines Lebens zu entkommen.
  12. Du weißt ja gar nicht, wie ich bin, schnupperte sie bei ihm herum.
    • Das Mädchen versucht jetzt, sich bei dem Soldaten ein zu schmeicheln.
  13. Doch, antwortete er, wie alle. Du bist eine Giraffe, du Langer, eine sture Giraffe! 
  • Hier wird der Soldat jetzt ein bisschen beleidigend, indem er dem Mädchen von vornherein abspricht, etwas Besonderes zu sein. Er vergleicht sie auch auf eine etwas seltsame Art und Weise mit einer Giraffe, der er die Eigenschaft der Sturheit zuspricht. Das passt natürlich gar nicht zu der Art und Weise, wie das Mädchen sich an ihn ranmacht. Denn eigentlich ist er ja stur. Möglicherweise ist das eine Art Abwehrreaktion oder Übertragung, wie die Psychologen das wohl nennen. Das ist aber auch wieder Zufallswissen, das man nicht haben muss.
  • o Es könnte natürlich auch sein, dass es sich hier um die Antwort des Mädchens handelt, was sich im weiteren Verlauf des Gesprächs angedeutet und dann auch bestätigt. Dies ist also hier eine nachträgliche Korrektur.
  1. Weißt du denn, wie ich ausseh, du?
    • Das Mädchen wird jetzt sehr deutlich, indem es die Schönheit seines Körpers anbietet.
  2. Hungrig, sagte er, nackt und angemalt. Wie alle.
    • Hier wieder die abweisende Reaktion des Mannes.
  3. Du bist lang und doof, du Giraffe, kicherte sie nah, aber du siehst lieb aus. Und Zigaretten hast du. Junge, komm doch, es ist Nacht.
    • Hier wird jetzt deutlich, dass diese Giraffenteile von dem Mädchen ausgehen. Seine Haltung ist geprägt von von Negativem und Positivem. Entscheidend ist aber letztlich das, was der Mann materiell anzubieten hat, nämlich Zigaretten
  4. Da sah er sie an. Gut, lachte er, du kriegst die Zigaretten und ich küß dich. Aber wenn ich dein Kleid anfasse, was dann?
    • Hier knickt der Mann ein und ist zumindest zu einem Kuss bereit.
    • Er verbindet das dann aber mit einer etwas seltsamen Frage. Die kann deutlich machen, dass Soldaten irgendwann fast vergessen, was man mit einem nackten Mädchen machen kann.
  5. Dann werde ich rot, sagte sie, und er fand ihr Grinsen gemein.
    • Auch hier merkt man den Abstand zwischen diesen beiden Menschen.
    • Das Mädchen verhält sich wohl eher professionell.
    • Der Mann dagegen bewegt sich in einer anderen Welt, denkt an die Morde, die er als Soldat begehen muss. Vor diesem Hintergrund findet er das Lächeln des Mädchen eher als Grinsen.
  6. Ein Güterzug johlte durch die Halle. Und riß plötzlich ab. Verlegen versickerte sein sparsames verschwimmendes Schlußlicht im Dunkeln. Stoßend, ächzend, kreischend, rumpelnd – vorbei.Da ging er mit ihr.
    • Es ist ein äußeres Ereignis, das den Soldaten dazu bringt, sich auf das Mädchen einzulassen. Denn hier wird erzähltechnisch ein Zusammenhang hergestellt zwischen der Zugfahrt und dem Entschluss.
    • Es könnte sein, dass dieser Zug ein Symbol ist für sein Leben, dem er sich jetzt auch in der Bewegung anschließt.
  7. Dann waren Hände, Gesichter und Lippen. Aber die Gesichter bluten alle, dachte er, sie bluten aus dem Mund und die Hände halten Handgranaten. Aber da schmeckte er die Schminke und ihre Hand umgriff seinen mageren Arm. Dann stöhnte es und ein Stahlhelm fiel und ein Auge brach.
    • Hier weiß man nicht so genau, inwieweit es bereits um Sex geht. Auf jeden Fall wird deutlich, dass der Soldat die Erinnerung an den Krieg nicht los wird.
    • Der Schluss könnte auf einen Orgasmus hindeuten.
  8. Du stirbst, schrie er.
    • Interessant, dass der Soldat selbst das dann in den Zusammenhang des Sterbens bringt, mit dem er tagtäglich konfrontiert ist.
  9. Sterben, jauchzte sie, das wär was, du.
    • Hier wird wird deutlich, dass dieses Mädchen sich in einer Situation befindet, in der ein momentanes, wenn auch sehr äußerliches Glück schon ein schönes Ende des Lebens darstellt.
  10. Da schob sie den Stahlhelm wieder in die Stirn. Ihr dunkles Haar glänzte matt.
    • Dies könnte andeuten, dass auch für das Mädchen jetzt die traurige Realität ins Bewusstsein zurückkehrt.
  11. Ach, dein Haar, flüsterte er.
    • Hier zeigt der Mann anscheinend etwas Gefühl für den menschlichen Aspekt der Gegenwart.
  12. Bleibst du? fragte sie leise.
    • Deutlich wird, dass das Mädchen durchaus daran interessiert ist, mit diesem Soldaten zusammenzubleiben. Spätestens hier merkt man, wie unklar in  dieser Geschichte die reale Situation des Soldaten geblieben ist. Warum ist er auf diesem Bahnhof? Muss er nicht zu seiner Einheit zurück? Kann er nicht bestraft werden, wenn er sich von der Truppe entfernt? Natürlich könnte man annehmen, dass die Geschichte nach Kriegsende spielt. Dagegen spricht aber, dass am Anfang davon die Rede ist, dass er sich auf zukünftige Morde einstellt.
  13. Lange?
  14. Immer?
  15. Dein Haar riecht wie nasse Zweige, sagte er.
  16. Immer? fragte sie wieder.
    • Hier gibt es Zeichen der Hoffnung auf ein Zusammenleben.
  17. Und dann aus der Ferne: naher dicker großer Schrei. Fischschrei, Fledermausschrei, Mistkäferschrei. Niegehörter Tierschrei der Lokomotive. 
  18. Schwankte der Zug voll Angst im Geleise vor diesem Schrei?
  19. Nievernommener neuer gelbgrüner Schrei unter erblaßtem Gestirn. Schwankten die Sterne vor diesem Schrei?
  20. Da riß er das Fenster auf, daß die Nacht mit kalten Händen nach der nackten Brust griff und sagte: Ich muß weiter.
    • Diese Passage macht deutlich, dass wohl sowohl innere als auch äußere Beweggründe den Soldaten daran hindern zu bleiben.
    • Am ehesten ist  davon auszugehen, dass die Kriegssituation ihn zwingt, sich wieder dem Morden zuzuwenden.
  21. Bleib doch, Giraffe! Ihr Mund schimmerte krankrot im weißen Gesicht.
  22. Aber die Giraffe stelzbeinte mit hohlhallenden Schritten übers Pflaster davon. Und hinter ihm sackte die mondgraue Straße wieder stummgeworden in ihre Steineinsamkeit zurück. Die Fenster sahen reptiläugig tot wie mit Milchhauch verglast. Die Gardinen, schlafschwere heimlich atmende Lider, wehten leise. Pendelten. Pendelten weiß, weich und winkten wehmütig hinter ihm her.
  23. Der Fensterflügel miaute. Und es fror sie an der Brust. Als er sich umsah, war hinter der Scheibe ein zu roter Mund. Giraffe, weinte der.
    • Der Schlussteil macht zum einen deutlich, wie sehr das Mädchen darunter leidet, dass es jetzt wieder in seine normale Situation zurück muss.
    • Die Situation des Soldaten ist am besten gekennzeichnet durch den Neologismus „stelzbeinte“ (unnatürliches Gehen) und das Wort „wehmütig“.
    • Es bleibt nur ein letzter Weg Blick zurück, bei dem  deutlich wird, wie traurig das Mädchen ist.

Insgesamt macht die Geschichte auf eine besonders ausgestaltete Art und Weise deutlich, in welcher Situation Menschen im Krieg sind und dass es dort allenfalls kurze Momente einer ansatzweise schönen Ablenkung geben kann. Das natürliche Leben ist für die beiden Menschen auf unterschiedliche Art und Weise weit entfernt.

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